München – Ingeborg Glupp ist Optimistin. Aber in letzter Zeit ist sie oft nachdenklich. Immer wieder geht ihr eine Frage durch den Kopf. Werde ich alt genug, um noch mal Normalität zu erleben? Manchmal fühlt es sich so an, als würde es für immer so bleiben, dass ihre Tochter eine FFP2-Maske tragen muss, wenn die beiden sich sehen. Dass es immer nur ein Treffen zu zweit sein darf. Dass ihre Tochter jedes Mal erst einen negativen Test vorlegen muss.
Glupp ist 88 Jahre alt und lebt im Seniorenheim in Haar (Kreis München). Am 1. Januar hat sie ihre erste Impfung bekommen, drei Wochen später die zweite. Auch die meisten anderen Bewohner haben inzwischen vollen Impfschutz. Geändert hat das nichts. Jeder Bewohner darf pro Tag maximal von einem Angehörigen besucht werden. Dafür gilt Test- und Maskenpflicht. So regelt es Paragraf 9 der Infektionsschutzverordnung. Diese Regeln galten in der Vorweihnachtszeit, als in vielen Regionen die Inzidenzen weit über 200 lagen. Und sie gelten genauso weiter – obwohl die Zahl der Fälle stark gesunken ist und in Bayerns Pflegeheimen inzwischen mehr als 115 000 Bewohner die erste und knapp 90 000 Bewohner die zweite Impfung bekommen haben. Trotzdem bleiben sie isoliert. Die Normalität, auf die sie mit dem Impfschutz gehofft haben, ist nicht zurückgekehrt.
Für 80 Prozent der geimpften Bewohner sind die Besuchsbeschränkungen nicht gelockert worden, für zehn Prozent haben sie sich sogar verschärft, berichtet der BIVA-Pflegeschutzbund. Das zeige, wie schwerfällig die Behörden arbeiten, betont Sprecher David Kröll. Aber auch wie groß die Verunsicherung ist. „Kein Bundesland will sich vorwagen.“ Und das, obwohl der Ethikrat schon vor vier Wochen für Lockerungen in den Heimen plädiert hatte. „Viele Senioren leiden nach wie vor sehr unter dieser Isolation“, sagt er. Rechtlich ist das bedenklich, erklärt er. Denn der Grund für die strengen Besuchsbeschränkungen fällt mit dem Impfschutz weg.
Bisher hat das Gesundheitsministerium in dieser Frage nur auf die Bund-Länder-Beratungen verwiesen. Gestern Abend sprachen sich die Gesundheitsminister der Länder nun aber für Lockerungen in den Heimen aus. Die Bewohner hätten viel zurückstecken müssen“, sagte Bayerns Gesundheitsminister Klaus Holetschek (CSU). „Niemand darf in den Einrichtungen vereinsamen.“ Wenn in einer Einrichtung die meisten Bewohner den vollen Impfschutz haben, sollen künftig wieder mehr Besuche, Gruppenangebote und Gemeinschaftsveranstaltungen möglich sein. Für die wenigen Ungeimpften werde der Schutz über die Hygieneregeln gewährleistet. Über diesen Vorschlag wird heute die Ministerpräsidentenkonferenz mit Kanzlerin Angela Merkel beraten.
Auf diese Ankündigung haben die Träger schon lange gehofft. Sie wollten heute mit einem gemeinsamen Appell den Druck auf die Politik erhöhen. Denn bisher hatten sie kaum Spielräume, sie müssen sich an die geltende Schutzverordnung halten. Trotz aller Sorge wegen der Mutationen und weil noch nicht alle Pflegekräfte eine Chance auf die Impfung hatten, plädieren auch Träger wie die Caritas dafür, wieder mehr Besuche zuzulassen. Beispielsweise von einem Haushalt, statt nur von einer Person, sagt Caritas-Sprecher Tobias Utters. Das würde für viele Senioren bedeuten, dass sie ihre Enkel wiedersehen könnten. Auch in den AWO-Heimen hatte sich durch die Impfungen bisher wenig verändert, berichtet Pflege-Referentin Dagmar Grabner. „Der Druck wächst, das spüren wir“, sagt sie. „Wir wissen, dass die Situation für viele Familien unerträglich ist.“
„Es wäre schlimm für uns, wenn nicht weiter gelockert wird“, sagt Ingeborg Glupp. Sie ist dankbar, dass sie ihre Tochter sehen kann. „Aber ich habe im Heim eine 99-jährige Freundin“, erzählt sie. Deren Familie lebt in Österreich, sie hat viele Enkel und auch Urenkel – und wird sich noch lange gedulden müssen, bis sie sie wiedersehen kann, befürchtet Ingeborg Glupp. Sie sagt: „Viele von uns haben die Angst, dass sie nicht mehr genug Zeit geschenkt bekommen, um das noch erleben zu dürfen.“