München – Daniela R. lernt den jungen Mann am 10. August an der Isarbrücke in Bad Tölz kennen. Sie geht mit ihm in seine Wohnung. Dort fällt der 22-Jährige über sie her, misshandelt, würgt, vergewaltigt sie und droht ihr mit dem Tod. Heimlich, unter Todesangst schreibt Daniela R. ihren Mitbewohnern verzweifelte WhatsApp-Nachrichten, auf die niemand reagiert. Der 22-Jährige vergewaltigt sie ein zweites Mal, schläft ein. Irgendwann traut sich die 27-Jährige, den Notruf zu wählen und wird von der Polizei gerettet.
Inzwischen ist der Täter verurteilt. Sieben Jahre Freiheitsstrafe wegen besonders schwerer Vergewaltigung. Also Akte geschlossen? Für den Täter vielleicht. Für das Opfer beginnt mit der Tatnacht ein Überlebenskampf, der bis heute dauert.
Daniela R., blonde Haare, blaue Augen, wirkt organisiert und aufgeräumt. Nur ihre immer röter werdenden Augen und die manchmal schmerzverzerrten Gesichtszüge deuten darauf hin, wie schwer das Trauma wiegt. Nicht nur die Vergewaltigung. Sie wurde erst Opfer und dann von allen verlassen. R. will kein Mitleid. Sie will, dass ihre Geschichte gehört wird, damit so etwas niemand anderem passiert. Zum Beispiel dieser Moment in der Apotheke, als R. die „Pille danach“ bezahlen muss und Angst hat, nicht genug Geld auf dem Konto zu haben. 35 Euro sind für die meisten kein großer Betrag. Doch R. lebt von Arbeitslosengeld II. Das Medikament kann sie sich grade so leisten. Aber das bleibt nicht der einzige Moment nach der Vergewaltigung, in dem sie sich hilflos und alleingelassen fühlt.
Die Laborkosten für alle Tests auf sexuell übertragbare Krankheiten, inklusive HIV-Test, muss sie auch selbst zahlen. Mit den Kosten für die späteren Krankenhausaufenthalte kommen 500 Euro zusammen. R. kämpft seit Monaten für die Erstattung.
Am 13. August werfen ihre Mitbewohner sie aus ihrer Tölzer Wohnung, weil sie nichts mit der Kripo zu tun haben wollen. R. hat kein ordentliches Mietverhältnis. Zwei Tage, nachdem sie vergewaltigt wurde, ist sie obdachlos – bis heute hat sie keine Wohnung gefunden. Sie wird zum Vagabunden mitten in Oberbayern. Und immer begleitet sie die Panik, irgendwo übernachten zu müssen, wo sie ungeschützt ist vor fremden Männern. „Ich hatte unfassbare Angst. Die ganze Zeit.”
Daniela R. ruft beim Frauennotdienst an. Dort wird ihr erklärt, dass sie kein Recht auf einen Platz im Frauenhaus hat, weil sie kein Opfer häuslicher Gewalt ist. In ihrer Verzweiflung lässt sie sich in eine Klinik einweisen. Dort sagt man ihr, dass sie eine Trauma-Bewältigung bräuchte. Doch alle Plätze sind ausgebucht. R. bleibt in der Abteilung für psychiatrische Patienten. Die 27-Jährige wirkt nicht krank. „Man sieht mir das nicht an“, sagt sie. „Ich funktioniere.” Die Klinik sei kein Obdachlosenheim, sagt eine Pflegerin zu ihr. Echte Patienten würden ihr Bett brauchen. „Ich habe mich in dem Moment wie ein Täter gefühlt.“ R. zieht zu einer Freundin. Es gibt nur ein Zimmer, nur ein Bett, keine Privatsphäre. Trotzdem fühlt sich R. zum ersten Mal sicher – doch das ist keine Dauerlösung.
Unterstützung bekommt sie vom Weißen Ring. Er kümmert sich um eine Opferanwältin und will auch die Laborkosten und Krankenhausrechnungen übernehmen. R. fragt bei der Arbeitsagentur nach, ob sie die Zuwendung annehmen darf oder ihr dann die Mittel gestrichen werden. Das müsse sie schon in einem Antrag begründen, antwortet man ihr. Der Antrag wird abgelehnt. „Die versuchen das ganz gerne“, sagt Andrea Hölzel, ihre Betreuerin vom Weißen Ring. Tatsächlich dürfen Arbeitslosengeld-Bezieher Spenden akzeptieren. Das wissen nur die Sachbearbeiter oft nicht. Daniela R. hatte nur in einer Hinsicht Glück. Ihr Fall kam zur Anklage. Sehr viele Vergewaltigungsverfahren werden eingestellt, berichtet Hölzel.
Ein halbes Jahr nach der Tat hat R. einen Mietvertrag für eine Sozialwohnung bekommen. Auch die Krankenkasse hat sich gemeldet, nachdem R. einen Aktenordner langen Briefwechsel mit ihr, der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns und sogar mit der bayerischen Ärztekammer angesammelt hatte. Die Kosten werden jetzt doch übernommen. Es handele sich um eine Einzelfallentscheidung. Die Spende hat sie an den Weißen Ring zurückgezahlt.
Also endlich alles gut? Akte geschlossen? R. zögert, blickt in den sonnigen Himmel über München. „Ich weiß es nicht.“ Die 27-Jährige lernt eigentlich Physiotherapeutin. Aber Körperkontakt mit Fremden kann sie sich so schnell nicht mehr vorstellen. Sie ist traumatisiert. Ob durch die Tat oder die Kämpfe danach – schwer zu sagen.
Hilfe für Opfer
Der Weiße Ring ist Ansprechpartner für alle Opfer von Gewalt. Kontakt unter 0151/55 16 46 87.