„Wir lassen die Verstorbenen nicht zurück“

von Redaktion

VON DOMINIK GÖTTLER

München – Der Plenarsaal des Bayerischen Landtags ist eigentlich kein Ort der Stille. Hier wird über Straßenausbaubeitragssatzungen und den Schutzstatus von Streuobstwiesen gestritten, nicht selten fliegen verbale Giftpfeile durch den Saal, wenn die Abgeordneten am Rednerpult mit dem politischen Gegner abrechnen. Gestern hingegen herrschte Stille im Saal. Bei einer Schweigeminute im Rahmen eines Trauerakts gedachten der Landtag all der 13 020 Menschen, die in Bayern bis gestern seit Beginn der Pandemie an oder mit dem Virus gestorben sind.

Menschen wie Sepp Mangstl. Er leitete die Führerscheinstelle am Landratsamt Rosenheim und war Musikmeister der Höhenrainer Blaskapelle. „Die Bühne war seine“, sagte Landtagspräsidentin Ilse Aigner in ihrer Rede im Landtag, umrahmt von einem Blumenmeer aus weißen Rosen und Lilien und dem Plexiglaslabyrinth im Abgeordnetensaal. Mangstl sei mitten im Leben gestanden, bis er mit massiven Atembeschwerden zum Arzt ging. „Zwischen dem positiven Corona-Test und seinem Tod lag ein Tag“, sagte Aigner. Sepp Mangstl starb am 20. März des vergangenen Jahres mit nur 54 Jahren. Keine drei Wochen später starb sein Vater – ebenfalls am Coronavirus. Aigner kritisierte, dass Mangstls Tod von Corona-Leugnern instrumentalisiert worden sei. Ihm seien Vorerkrankungen angedichtet und ein falsches Bild eines Lebenswandels gezeichnet worden. „In den Ohren der Angehörigen muss Sepp Mangstl zweimal gestorben sein“, sagte Aigner. „Corona zu verharmlosen oder zu leugnen, verhöhnt die Opfer auf unerträgliche Weise.“

Die Landtagspräsidentin räumte aber auch politische Fehler in einer Krise historischen Ausmaßes ein. „Jeder einzelne Tote ist eine schmerzliche politische Niederlage.“ Und mit Blick auf die Maskenaffäre sagte Aigner: Es sei abscheulich, dass es in dieser Notzeit Politiker gebe, die in die eigene Tasche wirtschaften. „Wir sind nicht so und dürfen es auch nicht sein.“ Nun müsse man an Tempo gewinnen und nach vorne blicken. „Aber wir lassen die Verstorbenen nicht zurück.“

Ministerpräsident Markus Söder betonte, die Verstorbenen seien nicht nur Statistik. „Wir trauern um jedes einzelne Opfer.“ Gleichzeitig verteidigte er seine strike Linie im Schutz vor dem Virus. „Ich möchte in keinem Land leben, in dem der Schutz des Lebens relativiert wird.“ Ein Trauerakt wie der gestern im Landtag bringe zwar niemanden mehr zurück. Aber er sei ein Zeichen der Solidarität mit den Hinterbliebenen.

Susanne Breit-Keßler, ehemalige Regionalbischöfin und Vorsitzende des bayerischen Ethikrats, erinnerte an den Schmerz der Familien, in denen viele Menschen für immer gehen mussten, ohne richtig Abschied nehmen zu können. „Ohne die Stimme, die ihnen sagte: Ich liebe dich, ich bin bei dir.“ Es treibe sie furchtbar um, dass Menschen einsam gestorben sind. Deshalb richtete sie auch einen Appell an die Politik und die gesamte Gesellschaft für mehr Zusammenhalt, für „Herzensbildung“, wie sie es nennt. Mit brechender Stimme mahnte sie: „Wie wir mit den Kleinen, den Zarten und Schwachen, den Hilfsbedürftigen, Alten und Kranken umgehen, mit denen, die sich sorgen und pflegen, mit denen, denen es das Herz vor Kummer zerreißt – daran entscheidet sich, ob wir wahrhaft menschlich sind.“

Nach diesen Worten erschienen nacheinander die Bilder von Verstorbenen auf der Leinwand im Saal. Angehörige konnten die Erinnerung an ihre Liebsten im Vorfeld einreichen – ergänzt mit einer kurzen Botschaft. Ergreifende Sätze, kurz, prägnant, die das Leid der Familien nur andeuten können. Neben einem der Sterbebilder steht geschrieben: „In der Statistik nur eine Zahl. Im Leben eine Lücke, die nicht mehr zu schließen ist.“

Artikel 8 von 11