Es gibt sie in halb Europa: Österreich, Slowakei, Slowenien zum Beispiel, aber auch hierzulande. 700 Erdställe sind in Bayern bekannt, in Dörfern wie etwa Aying (Kreis München), wo Forscher erst 2016 bei Bauarbeiten zu einem Pfarrsaal fündig wurden. „Ein historischer Sensationsfund“, jubelte damals die Gemeinde, die den Erdstall unbedingt erhalten wollte – dafür wurden sogar Mehrkosten für den Pfarrsaal-Bau in Kauf genommen.
Die frühesten Erdställe werden auf die Zeit des frühen Mittelalters datiert – der in Aying zum Beispiel ist 1000 Jahre alt. Es sind unterirdische und unvermauerte Gänge, einige Meter lang und ziemlich schmal, die in einer Kammer enden. Meist führt der Zugang einige Meter tief senkrecht nach unten. Auffallend ist die Fundleere – es gibt, abgesehen von einigen verkohlten Holzresten, nirgends Überbleibsel, schon gar nicht von kultischen Gerätschaften. Die Erdställe sind mancherorts als Schratzelloch bekannt – Schratzel für Zwerg oder Wichtel. Obwohl die ersten dieser Höhlen schon vor 150 Jahren gefunden wurden, weiß bis heute keiner mit Sicherheit, welchen Zweck sie hatten.
Aus dem Nachlass des verstorbenen Indersdorfer Heimatforschers Anton Hasch-ner (1934-2007) ist nun in der Regionalzeitschrift „Amperland“ (Heft 1/2021) eine neue Theorie publiziert worden. Das Besondere: Haschner versucht, „das Erdstallproblem nicht vom archäologischen Standpunkt aus, sondern mit Hilfe eines religionsgeschichtlichen Ansatzes anzugehen“, wie Amperland-Herausgeber Wilhelm Liebhart schreibt.
Weil die Erdställe so rätselhaft sind, wundert es kaum, dass es etliche Theorien über ihren Ursprung gibt. Frühe Forscher gingen von einem vorrömischen Kult aus, der tief unter der Erde stattfand. Auch ein prähistorischer Sonnenkult stand im Raum.
Eine weit verbreitete und auch heute noch von manchen Forschern geteilte Meinung war viel profaner: Der Archäologe Oswald Menghin nahm 1916 an, dass die Erdställe einfach Zufluchtsorte waren – für Bauern, wenn Gefahr im Verzug war. Auch Bernd Päffgen, Professor für Vor- und Frühgeschichte an der Münchner Universität, ist dieser Ansicht, wie er unserer Zeitung damals beim Fund in Aying erklärte.
Anderer Meinung ist die Interessengemeinschaft Erdstallforschung, die auf ihrer Homepage erklärt: „Die Erdställe sind in ihrer Architektur derart rätselhaft und unpraktisch, dass sich allein auf Grund ihres Erscheinungsbildes keinerlei Hinweis auf eine Verwendung ergibt. Auf den ersten Blick kommt sicherlich der Gedanke an ein Versteck, aber die Enge und die geringe Ausdehnung der Anlagen ergeben wenig Sinn.“ Weiter heißt es: „Ein praktischer Nutzen der Erdställe lässt sich nicht ausreichend belegen.“
Haschner hat sich mit frühchristlichen Theorien über die Phase nach dem Tod befasst und ist beim Kirchenschriftsteller Tertullian (wohl 160-220) fündig geworden, der von einem Zwischenzustand der Seelen zwischen Tod und Wiederauferstehung ausging. Ein heute kaum mehr fassbarer frühchristlicher Jenseitsglaube also. Als Aufenthaltsort aller Seelen nennt Tertullian das Innere der Erde. Demnach warteten die Seelen in den Erdställen auf den Tag des Jüngsten Gerichts. Daran anschließend wurde der Hades, die Unterwelt, zu einem Kerker, in dem die Gerechten und Ungerechten auf die Auferstehung warteten. Dieser Glaube wurde von der Idee eines Fegefeuers abgelöst, in dem die Seelen eine Chance zur Läuterung erhielten. Das wurde unter Papst Benedikt XII. (1334-1342) verbindliche Lehrmeinung – und war das Aus für die Erdställe.
Ist das Rätsel damit gelöst? Mit Sicherheit werden die Spekulationen weitergehen, versponnene wie ernsthafte. Ein Forscher hat schon im Jahr 1925 über eine längst ausgestorbene „Zwergenrasse“ fabuliert, die die Erdställe als Kultort genutzt haben soll. Nun ja. Mit noch mehr Fantasie begabte Schreiber haben Erdställe auch schon zum Schlupfloch für Außerirdische erklärt. DIRK WALTER
Zufluchtsort für Bauern?