„Es geht nur noch um Machterhalt“

von Redaktion

Der türkische Präsident Erdogan sitzt nicht mehr fest im Sattel

Istanbul – Mit einer Reihe umstrittener Entscheidungen sorgt der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan international für Irritation und Unruhe im Land. Per Dekret ordnet er den Ausstieg aus der Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen an – fast täglich gehen seitdem Demonstrantinnen auf die Straße. Er feuerte den Zentralbankchef, der gegen den Willen des Präsidenten die Zinsen erhöhte – die türkische Lira stürzte daraufhin ab. Das ist besonders bitter für Menschen, die ohnehin schon wirtschaftlich unter der Corona-Pandemie leiden. Der zweitgrößten Oppositionspartei, der pro-kurdischen HDP, droht unterdessen ein Parteiverbot, zahlreichen Oppositionspolitikern soll der Abgeordnetenstatut aberkannt werden. Die Liste ließe sich weiter führen.

Erdogan demonstriert Macht, doch er sitzt nicht so fest im Sattel wie es scheint. Trotz zahlreicher Befugnisse, die Erdogan unter anderem durch die Einführung eines Präsidialsystems vor drei Jahren angehäuft hat, ist der Präsident im Parlament auf die Unterstützung der ultranationalistischen MHP angewiesen. Aber auch mit dem Partner käme er laut aktuellen Umfragen nicht auf eine absolute Mehrheit. Die nächsten Wahlen stehen zwar regulär erst 2023 an, doch es wird spekuliert, dass sie vorgezogen werden könnten.

Aber statt auf gefällige Politik setzt Erdogan auf Konfrontation. Aus Sicht der Regierung könnten die jüngsten umstrittenen Schritte durchaus Sinn machen, sagt Günter Seufert, Leiter des Centrums für angewandte Türkeistudien (CATS), in Berlin. Denn die griffen Forderungen von Teilen der AKP-Wählerschaft auf. Das Drängen auf niedrige Zinsen sei ein Zugeständnis an Klein- und Mittelständler und große Firmen, etwa aus dem Bau- oder Energiegewerbe, die billige Kredite wollten.

Der Austritt aus der Istanbul-Konvention wiederum sei lange von religiösen Zirkeln wie Orden und Stiftungen gefordert worden. Der HDP-Verbotsantrag sei ein Zugeständnis an den Ultranationalisten Devlet Bahceli von der MHP. „Die Wähler, die nicht auf Gedeih und Verderb auf die AKP setzen, hat Erdogan schon verloren. Es geht jetzt darum, die Wähler, die noch auf ihn eingeschworen sind, bei der Stange zu halten“, so Seufert.

Mit seiner Politik wolle Erdogan auch in der Opposition Unruhe stiften, sagt Mustafa Yeneroglu, ehemaliger Vertrauter Erdogans, mittlerweile aber Mitglied der oppositionellen Deva-Partei. Erdogan versuche einen „Kulturkampf“ anzuzetteln und die Gesellschaft auseinanderzutreiben. „Wir sehen eine Politik, die versucht, von Krisen zu leben“, sagt Murat Akan, Politikwissenschaftler an der Istanbuler Bogazici-Universität. So hoffe der Regierungsblock, undemokratische Voraussetzungen für die nächsten Wahlen zu schaffen. „Dies ist ein Beweis dafür, dass sie selbst davon überzeugt sind, dass sie unter demokratischen Bedingungen keine wettbewerbsfähigen und fairen Wahlen gewinnen können.“ Erdogan gehe es nur noch um den Machterhalt. MIRJAM SCHMITT u. ANNE POLLMANN

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