„Die Zeit auf der Intensivstation kann Ängste wecken“

von Redaktion

INTERVIEW Psychologe Günter Diehl betreut Covid-Patienten nach der Erkrankung auf Reha und in Selbsthilfegruppen

Günter Diehl ist seit 30 Jahren Psychologe an der Espan-Klinik in Bad Dürrheim (Baden-Württemberg), die sich auf Rehabilitationen von Atemwegserkrankungen spezialisiert hat. Ein Jahr wie 2020 hat er noch nie erlebt. 350 Covid-Patienten betreute der 68-Jährige psychologisch. Doch auch nach dem Klinik- oder Reha-Aufenthalt brauchen viele Erkrankte weiterhin seelische Unterstützung. Selbsthilfegruppen sollen ihnen den Alltag mit Langzeitfolgen erleichtern.

Herr Diehl, wie ist es dazu gekommen, dass Sie die digitalen Corona-Selbsthilfegruppe psychologisch betreuen?

Mein Patient Karl Baumann hatte eine Covid-Erkrankung mit sehr schwerem Verlauf, er kam in die Espan-Klinik zur Reha. Nach seinem Aufenthalt wurde klar, dass die Patienten auch in ihrem Alltag eine Art Betreuung brauchen. So ist die Idee geboren, eine Selbsthilfegruppe zu gründen. Das hat natürlich eine Lawine losgetreten.

Inwiefern?

Ganz viele Covid-Patienten haben sich gemeldet und gesagt, dass sie sich nach ihrer Erkrankung eine Möglichkeit zum Austausch wünschen. Herr Baumann bekommt seit der Gründung der Gruppe fast täglich Anfragen von Betroffenen. Das Interesse ist enorm.

Wieso ist die Selbsthilfegruppe so wichtig?

Weil die Menschen oft keinen Ansprechpartner haben, um sich über die Krankheit und die Folgen auszutauschen. Die Patienten kommen nach der Reha zurück nach Hause und ihnen fehlen die Anlaufstellen und Gesprächspartner. Wo ist der nächste Kardiologe, Neurologe oder Psychotherapeut? Solche Termine sind außerdem oft mit langen Wartezeiten verbunden. So stoßen viele an ihre Grenzen. Hier kann die Selbsthilfegruppe unterstützen, indem Kontakte weitergegeben werden. Aber auch der Austausch untereinander ist wichtig. In der Gesellschaft herrscht immer noch sehr viel Unwissen und Unsicherheit. Viele denken immer noch, dass es sich bei Corona um eine Grippe handelt.

Woran merken Patienten, dass sie auch nach der Erkrankung Hilfe brauchen?

Indem sie sich körperlich nicht gut fühlen. Oft bleiben Restprobleme zurück, wie Atembeschwerden, Konzentrationsstörungen oder eine chronische Erschöpfung.

Die Folgen sind jedoch nicht nur physisch. Wie sehr schlägt die Krankheit auf die Psyche?

Durch eine Covid-Erkrankung können Ängste geweckt werden und Traumen entstehen. Vor allem Menschen, die im Koma lagen, geht es psychisch oft nicht gut. Viele plagten Albträume während ihrer Zeit auf der Intensivstation. Das begleitet sie auch noch im Nachhinein. Einer meiner Patienten zum Beispiel träumte davon, lebendig gegrillt zu werden. In der Klinik waren die Erkrankten täglich Extremsituationen ausgesetzt. Ein 50-Jähriger, der kürzlich in Bad Dürrheim wegen Corona auf Reha war, musste zusehen, wie sein Vater neben ihm an Covid starb. Das ist natürlich sehr belastend. All das sind Dinge, mit denen viele Post-Covid-Patienten fertigwerden müssen.

Besprechen Sie solche Probleme auch in der Selbsthilfegruppe?

Ja, wir sprechen auch über den psychischen Zustand der Teilnehmer. Doch meistens geht es um Alltagsfragen: Kann ich meinen Beruf noch ausüben? Wie hoch ist meine Leistungsfähigkeit noch? Die Erkrankten beschäftigt ja nicht nur, was war, sondern auch, wie es weitergeht. In der Selbsthilfegruppe sind Menschen, die dieselben Probleme haben und sie deshalb verstehen und auch ernst nehmen.

Ist die Arbeit mit Corona-Patienten eine neue Herausforderung für Sie?

Auf gewisse Weise schon. Ich habe im vergangenen Jahr 350 Covid-Patienten in der Klinik psychologisch begleitet. Ich staune wirklich, was für schlimme Dinge den Menschen passiert ist – oft existenziell bedrohend.

Haben Sie ein Beispiel für so einen Fall?

Eine meiner Patienten – Mitte 30 – kann ihren Job als Lokführerin nicht mehr ausüben. Sie ist im vergangenen Jahr an Corona erkrankt. Nachdem es ihr besser ging, ist sie wieder in den Berufsalltag eingestiegen. Doch sie hat schnell gemerkt, dass die Konzentration nachgelassen hat. Ein Sicherheitsrisiko – deshalb musste sie ihren Job aufgeben. Derzeit ist sie noch krankgeschrieben, wie es weitergeht, weiß sie nicht. Sie hat massive Existenzängste.

Fehlen weitere Selbsthilfegruppen?

Es gibt auf jeden Fall Bedarf. Wir mussten ja schon nach dem ersten Treffen eine zweite Gruppe bilden. Ich weiß, dass sich bundesweit auch weitere Gesprächsrunden bilden. Das ist dringend notwendig – die Spätfolgen werden uns das komplette Jahr weiter begleiten, vielleicht auch länger.

Interview: Laura Forster

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