München – Claus Fussek ist einer der bekanntesten Pflege-Experten Deutschlands. Nach mehr als 40 Berufsjahren hat der 68-Jährige die Pflege aus anderer Perspektive kennengelernt. Er und seine Familie haben seine 90-jährige Mutter zu Hause gepflegt. Ende Februar ist sie gestorben, ihre Kinder waren in den letzten Wochen ihres Lebens rund um die Uhr bei ihr. Für Claus Fussek war es ein Geschenk, seine Mutter in den letzten Tagen ihres Lebens zur Seite stehen zu können. Gleichzeitig war diese Zeit eine der größten Herausforderungen seines Lebens. Er möchte von dieser Erfahrung berichten – um zu erklären, dass menschenwürdige Pflege möglich ist. Wenn die richtigen Bedingungen erfüllt sind.
Herr Fussek, wie offen wird in Ihrer Familie über das Altwerden geredet?
Mit meinen Eltern habe ich oft darüber gesprochen. Es gab eine Situation, die ein Schlüsselmoment war. Meine Mutter musste in ein Krankenhaus, von dem sie wusste, dass ich die Pflege dort oft kritisiert hatte. Wir versprachen ihr, dass sie jeden Tag von uns besucht wird. Als ich kam, war sie in einem furchtbaren Zustand. Aber aus Angst ließ sie sich von mir versprechen, dass ich mich nicht beschwere. Ich habe ihr das Versprechen gegeben und erst bei ihrer Entlassung deutliche Worte gesagt. Es war das Schlimmste, dass ich meine Mutter nicht beschützen konnte.
Gertraud Fussek hatte nach dem Tod ihres Mannes allein in dem Haus in Lenggries gelebt. Hilfe im Alltag bekam sie in den letzten zehn Jahren von ihrer Familie und von 24-Stunden-Betreuerinnen. Zuletzt war das Marinela, die an Weihnachten aber bei ihrer eigenen Familie war. Claus Fussek bot seiner Mutter über die Feiertage einen „Urlaub“ in München bei der Familie an. Im Januar verschlechterte sich ihr Zustand rapide. Sie bekam eine schwere Psychose, lehnte ihre Medikamente ab.
Haben Sie gewusst, was mit der Pflege zu Hause auf Sie zukommt?
Ich habe es geahnt. Aber es war alternativlos. Natürlich hatten wir auch über ein Pflegeheim nachgedacht. Aber meine Mutter wollte das auf keinen Fall. Dazu kam die Pandemie. Ich hatte ein paar gute Heime im Kopf, aber dort hätten wir nie so schnell einen Platz bekommen. Unsere Eltern haben mich und meine Geschwister zum Zusammenhalt erzogen. Wir konnten diese Herausforderung nur gemeinsam schaffen. Und trotzdem gab es viele Situationen, in denen wir überfordert und verzweifelt waren.
Welche Hilfen hatten Sie?
Wir hatten sehr viel Glück. Zum einen, weil wir alle zu Hause arbeiten konnten. Aber vor allem, weil wir Hilfe von sehr vielen Personen bekommen haben. Unsere Hausärztin half sofort. Dann hatten wir Glück, dass wir schnell einen guten Pflegedienst gefunden haben – auch das ist nicht selbstverständlich. Außerdem kannte ich eine Hospizkrankenschwester, die uns sehr unterstützt hat. Ich konnte sie jederzeit anrufen.
Wann war klar, dass aus der Pflege eine Sterbebegleitung wird?
Relativ schnell. Meine Mutter hat sich sehr verändert, wir haben sie manchmal kaum wiedererkannt. Sie hat acht Wochen lang nichts mehr gegessen. Obwohl wir ihr ihre Lieblingsspeisen gekocht haben. Uns war bald klar, dass sie ihr Bett nicht mehr verlassen wird. Die zentrale Frage war, was ist der Wille meiner Mutter? Als wir uns einig waren, auf Palliativpflege umzustellen, wurden alle Medikamente abgesetzt, sie bekam nur noch etwas gegen die Schmerzen.
Claus Fussek, seine Geschwister Horst und Ingeborg und seine Frau Ute haben einen Schichtplan ausgearbeitet. Es sollte immer jemand bei ihrer Mutter sein. Auch nachts.
Sie haben viele Stunden am Bett bei Ihrer Mutter gesessen. Was ging Ihnen durch den Kopf?
Mir war immer bewusst, dass wir in einer privilegierten Situation sind. Ich hatte jeden Tag verzweifelte und traumatisierte Angehörige am Telefon, die nicht so viel Unterstützung hatten. Natürlich habe ich sehr viel darüber nachgedacht, wie meine Mutter diese Zeit in einem Heim erleben würde. Wo niemand da wäre, wenn sie nachts wach wird und Panik bekommt, weil sie nicht weiß, wo sie ist. Wo niemand ihre Lieblingsmusik spielt oder sich Zeit nimmt, um sie zum Trinken zu überreden.
Aber nicht jede Familie schafft es, Angehörige zu Hause zu pflegen.
Allein kann das keine Familie schaffen. Es geht nur, wenn man ein Netz aus Helfern hat und einen großen Zusammenhalt. Ich spreche so oft mit Angehörigen, die gar niemanden haben, der sie unterstützt. Es ist etwas völlig anderes, zuzuhören oder plötzlich selbst in der Situation zu sein. Es waren die härtesten Wochen meines Lebens. Irgendwann fehlt der Schlaf, man hat das Gefühl, dass die Nächte nie enden. Dann habe ich mir vorgestellt, wie das für Angehörige sein muss, die damit allein sind. Es muss sich so viel ändern in unserer Gesellschaft.
Was fordern Sie?
Es dürfte keine Pflegeheime ohne palliative Ausrichtung geben. Auch Hausärzte müssten palliativ geschult sein. Angehörige brauchen jemanden, der ihnen zuhört, einen Rat geben kann. Wir hatten großes Glück. Ohne unsere Marinela hätten wir es nicht schaffen können. Auch die Mitarbeiterinnen des Pflegediensts waren großartig, sie haben sich viel Zeit genommen.
Sie haben sonst immer nur mit den dunklen Seiten der Pflege zu tun. Machen Ihnen solche Erlebnisse nicht auch Hoffnung?
Ich wusste schon immer, dass es auch gute Pflegekräfte gibt. Aber ich kenne auch viele Angehörige, die mir das nicht mehr glauben.
Wie bewusst war Ihrer Mutter die Situation?
Sie hatte Momente, in denen sie das klar wahrgenommen hat. Dann war es ihr unangenehm, uns zur Last zu fallen. Gleichzeitig war die Scham oft groß. Meine Mutter hatte Schuldgefühle – aber noch größer war ihre Dankbarkeit. Wir hatten ihr versprochen, dass sie zurückbekommt, was sie uns gegeben hat. Dieses Versprechen konnten wir halten. Für uns ist es das größte Geschenk, dass wir wissen, wie sie gestorben ist. Wir sind demütig dankbar dafür, dass wir ihr diesen Abschied ermöglichen konnten.
In der Nacht auf den 28. Februar ist Gertraud Fussek friedlich eingeschlafen. Ihre Kinder saßen an ihrem Bett und haben mit ihr ihre Lieblingslieder von Heintje gehört. Die Wochen waren schwer, sagt Fussek. Aber es gab auch viele sehr intensive Momente.
Ist es belastend für Sie, dass Ihre letzten Momente mit Ihrer Mutter so von der Krankheit geprägt waren?
Ich habe so viele tolle Erinnerungen an meine Mutter. Zum Beispiel wie sie damals einen Brief an das Kreiswehrersatzamt geschrieben hat, um zu erklären, warum ich den Kriegsdienst verweigere. Das war damals eine sehr große Sache. Diesen Brief haben wir an ihrem Bett zusammen gelesen. Sie war so stolz. „Damals hatte ich Schneid“, hat sie gesagt. Wir haben an ihrem Bett viel geweint und waren oft überfordert – aber es gab auch solche Momente, die intensiv und schön waren.
Haben Sie durch diese Erfahrung nun mehr Angst vor dem Altwerden?
Ich habe wenig Angst vor dem Altwerden, aber Angst davor, pflegebedürftig zu werden. Ich möchte nicht, dass meine Kinder mich pflegen müssen. Es ist nicht leicht, diese Hilfe anzunehmen.
Was, hoffen Sie, wird sich im Pflegesystem ändern?
Heime dürfen keine Friedhöfe für Lebende sein. Sie müssten vorgelagerte Tagesstätten haben. Wir brauchen ganz andere Pflegeschlüssel. Unsere Gesellschaft muss bereit sein, den Preis für würdevolle Pflege zu zahlen. Dazu müssen wir Strukturen aufbauen. Wir brauchen keine Studien mehr, wir müssen handeln. Wenn uns das nicht gelingt, müssen wir über aktive Sterbehilfe diskutieren. Pflege ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Jede Familie wird irgendwann damit konfrontiert. Ich verstehe nicht, warum wir das nicht zu unserer Schicksalsfrage machen. Jede Familie muss rechtzeitig über das Thema sprechen, sich Rat holen. Ohne Netzwerk geht es nicht.
Wie schwer war es, nach dem Tod Ihrer Mutter wieder in den Alltag zu finden?
Meine Mutter fehlt uns oft im Alltag. Natürlich haben wir uns gefragt, wie lange wir es geschafft hätten, sie zu Hause zu pflegen. Aber die Antwort darauf hat sie uns abgenommen. Wir haben nur von einem Tag zum anderen geplant. Ich habe nun erlebt, wie intensiv und emotional Sterbebegleitung wirklich ist. Dass wir alle bei meiner Mutter sein konnten, als sie starb, ist unbezahlbar. Sie hatte das verdient. Aber auch andere ältere Menschen hätten es verdient. Interview: Katrin Woitsch