Rottach-Egern – Schönheit ist Gefühlssache, das weiß kein Mensch unterm weiß-blauen Himmel besser als Gertraud Gruber. Es ist schon ein paar Jährchen her, irgendwann im Sommer 1975, da sind Loki Schmidt, die Frau des Bundeskanzlers, und Liselotte Vogel, die Frau des damaligen Bundesjustizministers, gemeinsam in Grubers Schönheitsfarm in Rottach-Egern. Die berühmten Gattinnen halten sich an Grubers strengen Diätplan — lediglich beim Kräutertee schert Loki aus. Sie besteht auf Bohnenkaffee. Der Lohn für die Mühen: Die Damen hungern sich innerhalb einer Woche jeweils zwei Pfund ab. Der Bürgermeister von Rottach-Egern bringt zur Belohnung Blumen vorbei und Gertraud Gruber lässt Sekt reichen. Weil eine Diät zwar schön und gut ist, aber es auch Ausnahmen geben muss.
So läuft das hier am Tegernsee seit 1955. Damals gründet die gebürtige Münchnerin die erste Schönheitsfarm Europas. Es ist ein Geniestreich. Wellness ist damals noch ein Fremdwort, aber schon bald wird es für viele Damen aus besseren Kreisen das liebste Hobby. Die Kessler-Zwillinge kommen und auch die Sängerin Caterina Valente. Gertraud Gruber wird vom Volksmund zur Schönheitspäpstin vom Tegernsee ernannt. Ihr Reich mit 90 Betten, Yoga-Zimmern und Schönheitssalons nennen die Einheimischen schon bald die „Jungmühle“ oder die „Runzelranch“. Den Ehemännern erteilt Gruber allerdings Hausverbot. Weil, so sagt es die blitzgescheite Unternehmerin: „Wir kriegen doch keine dicke Dame ins Wasser, wenn da schon Männer drin sind.“
Gruber geht Mitte der 1950er-Jahre ein großes finanzielles Risiko ein, um ihren Traum zu verwirklichen. Der Erfolg hat ihr immer Recht gegeben. Aber der Anfang ist schwer. Gruber will ursprünglich Tänzerin werden. „Der Krieg machte meinen Plänen ein Ende“, erzählte sie einmal. „Tänzerinnen wurden nicht mehr gebraucht, wohl aber Gymnastiklehrerinnen und Krankengymnasten.“ Während des Weltkriegs wird sie als Heilgymnastin in die Lazarette geschickt. Dort behandelt sie einen schwer verliebten 18-jährigen Soldaten, der nach einer Schussverletzung eine halbseitige Gesichtslähmung hat. Er will nicht, dass seine Freundin ihn so sieht. Gruber massiert ihn – und die Lähmung beginnt zu verschwinden. Ein Erfolgserlebnis, das sie bestärkt.
Nach Kriegsende heiratet sie Josef „Beppi“ Gruber aus Rottach. Schon bald steht sie im Rathaus, um Massage und Gymnastik als Gewerbe anzumelden. Der Bürgermeister sagt: „Kein Bedarf!“ Zum Glück fällt kurz darauf die alte Gewerbeordnung. Gertraud Gruber macht sich als Kosmetikerin selbstständig. Ihre Cremes, die Zutaten bringt ihr eine einheimische Kräuterfrau, rührt sie in einem kleinen Labor selbst an. Sie hat noch kein eigenes Kosmetikstudio, stattdessen fährt sie mit dem Radl zu ihren Kundinnen. „Zu einigen durfte ich nur kommen, wenn der Mann am Stammtisch oder beim Schafkopfen war“, sagt Gruber. „Kehrte er früher als erwartet zurück, wurde ich schon mal auf den Balkon oder in eine kalte Abstellkammer gesperrt.“
Schon ein halbes Jahr später mietet die aufstrebende Unternehmerin ein kleines Behandlungszimmer. Auch der Zahnarzt betreibt seine Praxis in dem Haus, was ein enormer Vorteil ist. So kann von draußen keiner erkennen, wohin die Kundinnen gehen. 1955 dann der nächste Meilenstein. Gruber will Frauen in der entbehrungsreichen Nachkriegszeit „als Ganzes, von innen und außen verschönern“. Hauptquartier der Verschönerung wird das ehemalige Haus einer Kammersängerin – es ist bis heute das Herzstück des Unternehmens. „Mein Mann und ich haben uns dafür bis über die Halskrause verschuldet“, sagte Gruber einmal. „Die ersten Jahre waren hart: Sieben Zimmer im Erdgeschoss, wir selber haben im Keller geschlafen und eisern gespart.“
Gruber ist wissbegierig. Alle möglichen Methoden testet sie. Lymphdrainage, Bindegewebsmassage, Ohrenmassage, Yoga, Qi Gong, meditativer Tanz, Klangtherapie – wer nach Rottach kommt, braucht Mut für neue Wege. Aber die meisten Kundinnen reisen glücklich ab. Viele halten der Farm jahrzehntelang die Treue. „Die ersten, die in den 1950er-Jahren kamen, waren vor allem Großstädterinnen, schicke Frauen zwischen 30 und 50, aufnahmebereit und neugierig“, sagt Gruber.
Bis vor ein paar Jahren hat Gruber noch selbst Yoga-Kurse gegeben, inzwischen überlässt sie das ihren Mitarbeitern. Aber an ihrem Motto hat sich nichts geändert. „In Japan gibt es ein Sprichwort, das besagt, man soll seine Haut behandeln wie ein geliebtes Kind. Das gefällt mir“, sagt die Schönheitspäpstin. Und: „Essen Sie gute, naturbelassene Lebensmittel in einer ausgewogenen Zusammensetzung. Genießen Sie das Leben, seien Sie fröhlich, wach für Neues und vergleichen Sie sich nicht dauernd mit anderen.“
Frauen, erzählte sie einmal, neigen dazu, jedes Körperteil einzeln zu kritisieren: Uh, da schau die Oberarme, und da die blauen Adern am Bein. Und erst der Hals. „So ein Unfug“, sagt Gruber. „Wir sollten liebevoll und achtsam mit unserem Körper umgehen, damit die Seele Lust hat, darin zu wohnen.“ Was das Leben und auch die Schönheit betrifft, plädiert sie für die goldene Mitte. „Wer Sport treibt wie ein Wilder, hat vielleicht einen stählernen Körper, aber eben auch ein verbissenes Gesicht“, sagt Gruber. „Wer vor lauter Nachdenken völlig vergeistigt ist, vergisst womöglich, dass es mal wieder Zeit ist, zum Friseur zu gehen. Und wer nur andauernd darüber sinniert, wie er sich möglichst gesund ernährt, schaut selten wirklich gesund aus.“
Lauter schlaue Sätze. Am Pfingstmontag feiert die Schönheitspionierin ihren 100. Geburtstag. Sie lebt noch immer auf der Schönheitsfarm – und sie hat sich bereits im Vorfeld ihr Geburtstagsessen gewünscht. Am 24. Mai 2021 wird es Brathendl mit Kartoffelsalat geben und danach Schokoladeneis mit Eierlikör. Denn wer schön sein will, der muss nicht immer leiden. Das ist vielleicht die größte Lehre der großen Gertraud Gruber.