Jugendliche stellen sich hinten an

von Redaktion

VON KATHRIN BRAUN

München – Das Studium hat für viele im Pyjama angefangen. Etwa 8000 Studenten haben sich vergangenen Herbst an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) in München für das Wintersemester eingeschrieben. Das Sommersemester läuft bald seit zwei Monaten, trotzdem haben die meisten von ihnen die Uni noch nie von innen gesehen. Der Frust wächst: Während immer mehr vollständig Geimpfte ihre Grundrechte zurückerlangen, warten vor allem junge Menschen noch auf einen Termin für ihre erste Dosis.

In sozialen Medien wird gerade viel von Impfneid gesprochen. Oder auch von Impfgerechtigkeit – je nachdem, wie man es sieht. Die Geduld ist langsam am Ende, und vor allem Jüngere fühlen sich derzeit doppelt benachteiligt: sich erst aus Solidarität mit Risikogruppen einschränken, und jetzt an letzter Stelle stehen, wenn es wieder in Richtung Normalität geht – viele können das nicht verstehen.

„Ich kann die Unzufriedenheit junger Menschen durchaus nachvollziehen“, sagt Georg Marckmann, Professor für Medizinethik an der LMU. „In dem Moment, als es mit den Impfungen losging, war die Priorisierung noch gut begründet. Es war nachvollziehbar, dass besonders gefährdete Menschen zuerst geschützt werden sollten.“ Doch so langsam verändere sich die Situation. „Die Pandemie entspannt sich deutlich, immer mehr Risikogruppen sind bereits geimpft.“ Deshalb gehe die Diskussion, ob Geimpfte ihre Freiheiten früher zurückbekommen sollten, in die falsche Richtung. „Man sollte sich eher fragen, ob es überhaupt noch gerechtfertigt ist, junge Menschen weiter einzuschränken.“

Das größte Problem sei, dass die Politik „keine guten Gründe“ hat, warum zum Beispiel Schulen oder Universitäten trotz sinkender Inzidenzen und steigender Impfquote noch nicht zur Normalität zurückgekehrt sind. „Natürlich wächst der Unmut, wenn man nicht verstehen kann, wofür man all das noch ertragen soll“, sagt Marckmann.

Dieser Unmut dürfe nicht unterschätzt werden, warnt auch Hans-Werner Wahl, Professor für Psychologie und Alternsforschung an der Uni Heidelberg. „Wir haben keinen guten Job darin gemacht, junge Menschen anzusprechen – und vor allem ihre Bedürfnisse ernst zu nehmen.“ Er findet es problematisch, dass jüngere Gruppen oftmals für steigende Infektionszahlen verantwortlich gemacht wurden. „Es ist ein unglaubliches Armutszeugnis, dass junge Menschen darauf reduziert werden, nur feiern zu gehen und Spaß haben zu wollen. Mit so einem Denken erniedrigen wir uns selbst als gesamte Gesellschaft.“

Dabei sind die Zahlen eindeutig: Laut der Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendhilfe (AGJ) fühlen sich vier von fünf Jugendlichen durch die Pandemie psychisch belastet. Das Problem existiert weltweit. In manchen Ländern vervielfachte sich die Zahl der Erkrankungen an Depressionen oder Angststörungen, wie aus zwei Studien der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hervorgeht.

Demnach sind Jugendliche um 30 bis 80 Prozent stärker als die Gesamtbevölkerung betroffen. Auch das Münchner Studentenwerk berichtet, dass die psychotherapeutische Beratungsstelle aktuell „stark nachgefragt“ ist. Viele Studenten würden sich durch das Online-Semester isoliert fühlen. Einige hielten sich aufgrund der Einsamkeit lieber wieder bei den Eltern auf. Man müsse anerkennen, „dass hinter den Studierenden eine sehr anstrengende Zeit“ liegt.

Allmählich werden einzelne Parteien auf das Thema aufmerksam. Grünen-Politiker Lasse Petersdotter sprach sich kürzlich für mehr Wertschätzung und Aufmerksamkeit gegenüber jungen Menschen aus. Und die Münchner SPD forderte nun, Kontaktbeschränkungen für unter 21-Jährige zu lockern. Kommen solche Anstöße zu spät? Medizinethiker Georg Marckmann kritisiert, dass die Politiker während der gesamten Pandemie nicht ausreichend mit jungen Gruppen kommuniziert hätten.

Außerdem sei nun bei der Impfstoff-Knappheit der Eindruck entstanden, als ginge es bei der Priorisierung um „Leben und Tod“: Das setze die Menschen unter Druck – wodurch bei Ungeimpften der Impfneid aufkomme. Der Medizinethiker warnt vor einem Generationenkonflikt – der Frust junger Menschen dürfe sich nicht an ältere Menschen richten.

Auch Vorwürfe, dass sich Senioren nicht mit Astrazeneca impfen lassen wollen und damit den Impffortschritt bremsen, seien nicht gerechtfertigt. „Das ist kein Problem allein der älteren Generation. Als der Impfstoff nur für unter 60-Jährige zugelassen war, wollten ihn auch viele Jüngere nicht haben.“ Man könne aber generell infrage stellen, sagt Georg Marckmann, ob es nicht die solidarische Pflicht von jedem Menschen sei, sich rasch impfen zu lassen, um damit andere zu schützen.

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