Freising – Im März 2013 erhielt Vincent Kammerloher die bittere Diagnose – chronisch myeloische Leukämie. Es war schnell klar, dass eine Stammzellenspende die einzige Überlebenschance für ihn ist. Und tatsächlich, bereits einige Wochen nach der Diagnose teilte der behandelnde Arzt aus Schwabing Vincent mit, dass ein passender Spender gefunden wurde.
Das Problem: die Leukämie kam bei dem Freisinger trotz Behandlung immer wieder stärker zurück, die Transplantation musste mehrere Male verschoben werden. Der potenzielle Spender, Markus Kaufmann, stand während der Zeit immer auf Abruf bereit. Der heute 34-Jährige studierte damals noch, verschob erst eine Klausur und schließlich auch den geplanten Vietnam-Urlaub. Dass er der perfekte Spender war, daran bestand für den Arzt aus Schwabing nie ein Zweifel, erzählt Vincent Kammerloher. „Aus Spendersicht ist es unglaublich schwierig, Markus zu übertreffen. Er ist körperlich absolut topfit.“
Am 11. Februar 2014 konnte die Transplantation endlich stattfinden. Seinen Lebensretter kannte Vincent zu dem Zeitpunkt noch nicht. Aus Datenschutzgründen ist ein direkter Kontakt zwischen Empfänger und Spender erst zwei Jahre nach der Transplantation möglich.
Aber Vincent Kammerloher hatte zunächst ohnehin andere Sachen im Kopf, er musste sich ins Leben zurückkämpfen. Die Stammzellen waren für ihn keine Garantie zur Heilung, sondern erstmals nur ein weiterer Infusionsbeutel. Der heute 29-Jährige musste abwarten, was sein Körper damit macht.
Im Krankenhaus hatte Vincent fünf Monate nur gelegen, nichts mehr gegessen, wog zwischenzeitlich nur 48 Kilo. Das Laufen musste er erst wieder lernen, den Körper neu kennenlernen. Und dann lernen, dem Körper wieder zu vertrauen. Die einfachsten Sachen funktionierten nicht mehr. Etwa das Abschrauben des Deckels von einer Flasche Orangensaft. Kammerloher behalf sich mit einem Nussknacker und einer Rohrzange.
Sein Auto fuhr er bei einem Unfall zu Schrott, das hat ihn aufgerüttelt: „Ich musste einfach einsehen, dass nicht mehr alles genauso geht wie vorher.“ 2014 und 2015 besuchte Vincent Kammerloher eine Rehabilitationsklinik im Schwarzwald. Eine 180-Grad-Wendung, wie er sagt. Vincent meldete sich danach wieder im Fitnessstudio an: „Es kam endlich wieder etwas Substanz in diese Leere.“ Seinen eigentlichen Job als Zimmerer musste er aufgrund der körperlichen Verfassung aufgeben, er absolvierte eine Umschulung zum Bautechniker und schloss mit einer sehr guten Note ab.
2015 entdeckte Vincent Kammerloher auf Facebook anonymisierte Briefe an Spender. Er musste an seinen Lebensretter denken und nahm Kontakt auf. Zunächst schrieben sich Vincent und Markus Briefe. Am 12. Februar 2016, also zwei Jahre und einen Tag nach der Transplantation, erhielt Vincent dann eine WhatsApp-Nachricht von Markus: „Endlich muss ich dich nicht mehr mit Mister X ansprechen, lass uns doch mal telefonieren.“
Das erste Treffen fand auf einer Veranstaltung der Stefan-Morsch-Stiftung, bei der Markus sich registrieren ließ, statt. Die Stiftung ist die erste Stammzellspenderdatei Deutschlands, täglich können Stammzell- oder Knochenmarkspender aus 480 000 potenziellen Lebensrettern weltweit vermittelt werden. „Doch seit Beginn der Corona-Pandemie sind Typisierungsaktionen vor Ort nur sehr vereinzelt möglich. Deshalb fehlen in unserer Datei bereits mehr als 15 000 neue Stammzellspender im Vergleich zu 2019“, sagt Annika Bier, Sprecherin der Stiftung.
Vincent und Markus sind mittlerweile Freunde fürs Leben. Trotz 600 Kilometer Entfernung. Erst im April waren sie – der Bauleiter aus Bayern und der Coach in der Erwachsenenbildung aus Nordrhein-Westfalen – zusammen auf einem Vorgipfel der Kampenwand und sind anschließend in einen Badesee gesprungen. Das gehört zu ihren Ritualen: gemeinsam schwimmen gehen, egal wie kalt es ist. „Er ist wie ein Sandkastenfreund für mich, den man dann 15 Jahre nicht sieht und beim ersten Wiedersehen ist alles wie früher“, sagt Vincent Kammerloher und denkt kurz nach, dann sagt er: „Nur, dass es das früher bei uns halt nie gab.“