KOLUMNE

VON SUSANNE BREIT-KESSLER* Die Räuberleiter

von Redaktion

Sätze gibt es, die plumpsen ins Herz und ziehen dort nie wieder aus. Die Autorin Nora Bossong hat so einen Satz gesagt, vor vierzehn Tagen, bei der Verleihung des Thomas-Mann-Preises der Stadt Lübeck und der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Am Ende ihrer Dankesrede, in der sie sich mit dem Verhältnis zwischen Corona, dem Zauberberg, den Buddenbrooks und ihrem hanseatischen Vater befasste, sagte sie: „In gewisser Weise war auch mein Vater ein Übervater, aber einer, der mir immer die Räuberleiter gehalten hat, damit ich über ihn hinausklettern konnte.“

Großartig. Mich erinnert das an meinen Vater, keinen großbürgerlichen Hanseaten, sondern einen einfachen, thüringischen Arbeiter. Er hielt mir wahrlich oft die Räuberleiter…

Ich durfte ihm leere Bonbonpapiere zum Wegwerfen geben, bekam saubere Taschentücher geliehen, weil ich sie bis heute immer vergesse. Er ließ mich gegen den Willen meiner Mutter KarlMay-Filme sehen und spendierte mir besonderes Taschengeld für das Rosenheimer Volksfest. Und mein Vater sah erstaunt und zufrieden zu, wie die Tochter wild entschlossen durchs Gymnasium marschierte, um zu studieren.

Aber bei dem Herzenssatz von Nora Bossong geht es nicht allein um selige Erinnerungen. Das Verhältnis der Generationen, zwischen Alten und Jungen, wird mit der Räuberleiter so hinreißend beschrieben, wie es mahnende Worte vom Generationenverhältnis, gar von Konflikt oder einzufordernder Gerechtigkeit niemals könnten. Räuberleiter: Einer hilft dem anderen auf, stemmt ihn in die Höhe. Gibt kräftemäßig alles. Lässt es zu, dass ein anderer, eine andere über ihn hinauswächst, nach oben, weiter gelangt. Dinge sieht, die man unten nicht mitbekommt.

Und die, die klettern – sie sollten wissen, auf wessen Schultern sie stehen. Worauf ihr ganzes Vorankommen neben und nach der eigenen Leistung beruht. Niemand fällt einfach vom Himmel und hat sich alles selbst bloß zu verdanken.

Vielleicht muss man ja auch manchmal den Rückzug antreten und braucht diese Schultern und Arme, um wieder festen Boden unter die Füße zu kriegen. Eine Räuberleiter ist natürlich auch ein bisschen Anarchie und Abenteuer …

Aber sie funktioniert nur mit klaren Absprachen, stillschweigend eingehaltenen Regeln und mit gegenseitiger Rücksicht. Die Räuberleiter halten, damit einer über den anderen hinausklettern, neue Perspektiven entdecken und sie dem Partner weitergeben kann. Ein gemeinsames Projekt. Dafür ist jetzt allerhöchste Zeit. Und nicht immer sind es die Alten, die unten stehen …

* Susanne Breit-Kessler ist Vorsitzende des Bayerischen Ethikrats und war evangelische Regionalbischöfin für München und Oberbayern

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