Polit-Senior entdeckt TikTok

von Redaktion

VON CHARLOTTE VON STOSCH

München – TikTok wird schnell als eine typische „Teenie-Plattform“ abgestempelt. Vielen Älteren ist die App erst seit der Fußball-EM bekannt, bei der der chinesische Internet-Riese einer der Hauptsponsoren ist. Das Konzept sind kurze Videoclips, die meist mit bestimmten „Sounds“ unterlegt sind. Wer hätte gedacht, dass ein Münchner Politiker mit fast 75 Jahren mittlerweile Millionen von Benutzern mit seinen Videos erreicht?

Wolfgang Heubisch, Vizepräsident des Landtags, erstellte seinen Account Mitte November 2020. „Ich war total kritisch am Anfang“, sagt der FDP-Politiker unserer Zeitung. Doch er freundete sich mit dem interaktiven Format der App an und sammelte ein Team um sich, das die „richtige Denke draufhat“. Zusammen produzieren sie Videos, die die Diskussion gesellschaftspolitischer Themen mit den Trends des Netzwerks kombinieren.

Seine Follower-Zahl beträgt nun beinahe 53 000 und wächst stetig. Im Januar bekam einer seiner Beiträge 2,4 Millionen Views. In der Aufnahme schleudert er einen AfD-Antrag nach dem andern in den Papierkorb. Anscheinend sind es besonders die 16- bis 18-Jährigen, die sich angesprochen fühlen, was Heubisch zuerst wunderte – sie dürfen ja noch gar nicht wählen.

Doch es sind eben diese zwei Jahre vor dem Erreichen des Wahlalters, die für die politische Bildung so unerlässlich sind, sagt der ehemalige bayerische Wissenschaftsminister. Und das war auch das ursprüngliche Ziel seines Social-Media-Projekts: der Jugend zu zeigen, „ihr habt auch Verantwortung und ihr müsst letztlich Verantwortung übernehmen“.

Das Einbeziehen und Engagieren der jungen Wähler – bei vielen Parteien besteht an diesem Punkt noch Ausbaubedarf. Er ist jedoch bisher einer der wenigen Einzelfiguren, die sich auf die Plattform getraut haben. Thomas Sattelberger, Mitglied des Bundestages für die FDP, hatte ein paar Monate Vorsprung und ist mit 123 700 Followern noch erfolgreicher, CSU-Generalsekretär Markus Blume mit 8230 schon eher weniger. Ansonsten agiert man mit Sammel-Accounts, von denen manche im Vergleich klein sind: die SPD im Bundestag kommt noch nicht einmal an die 8000 heran, die CSU liegt bei 44 900. Die Grünen dagegen haben, trotz ihrer besonders jugendlichen Anhängerschaft, weder auf Bundes- noch Landesebene einen Account. Datenschutz ist laut Angaben der Fraktion der Hauptgrund. Werden hier Chancen verpasst?

Heubisch glaubt nicht daran, dass die Jugend grundsätzlich apolitisch ist. Aber es sei schwer, Interesse zu erwecken, wenn man sie auf die gleiche Art anspricht wie ältere Generationen. „Die Welt verändert sich und die Welt ist eine der Jugend geworden – das ist TikTok. Wenn ich Politik machen will, muss nicht ich TikTok ändern, sondern TikTok ändert mich.“

Das Feedback ist laut Heubisch überragend positiv. Es gehe vorerst darum, zum Nachdenken anzuregen und zu motivieren, sich mit Themen kritisch auseinanderzusetzen. „Mehr soll es nicht sein, es ist ja kein Wahlkampf.“ Es sei für Politiker essenziell, eine Verbindung zu den Jugendlichen zu knüpfen, soziale Medien scheinen ein effizientes Medium zu sein. Nach Angaben des Bundeswahlleiters werden im September 4,6 Prozent der Wahlberechtigten Erstwähler sein, ein nicht zu vernachlässigender Anteil. Selbst wenn bei einer unseriös wirkenden Plattform wie TikTok viele Politiker Blamage fürchten: Kritik spürt Heubisch selten. Er ist eine natürliche Respektsperson – im Großteil der Kommentare zu seinen Videos wird er instinktiv gesiezt.

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