Die Stimme der Betreuten

von Redaktion

VON THOMAS TIJANG UND DOMINIK GÖTTLER

München/Hilpoltstein – Günter Usbeck ist schon lange Rentner. Doch mit 73 Jahren darf er am Sonntag erstmals mitbestimmen, wer künftig das Land regiert, in dem er lebt. Usbeck gehört zu den vielen Erstwählern, die nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts erstmals ihr Kreuzchen bei einer Bundestagswahl machen dürfen. Er sagt: „Ich freue mich, dass wir jetzt den Bundestag wählen dürfen.“

Bis 2019 waren Menschen mit Behinderung in sogenannter rechtlicher Vollbetreuung von ihren demokratischen Rechten ausgeschlossen. Dann kippte das Bundesverfassungsgericht das damalige Bundeswahlgesetz. Daraufhin musste der Bundestag mit einer Reform ein inklusives Wahlrecht schaffen. Bei der Wahl des Europaparlaments 2019 und den Kommunalwahlen im vergangenen Jahr wurde das bereits umgesetzt. Und nun erstmals auch bei der Wahl des deutschen Bundestags. Betroffen davon sind bundesweit gut 80 000 Menschen, etwa 20 000 davon aus Bayern.

Einer davon ist Günter Usbeck. Er lebt seit Jahrzehnten im Auhof, einer Einrichtung der Diakonie. Sie bildet im fränkischen Hilpoltstein eine Art Stadt in der Stadt – mit Schule, Werkstatt, Gärtnerei und Wohnungen für insgesamt rund 400 Menschen mit einer geistigen oder seelischen Behinderung.

Erste Erfahrungen mit dem Wahlprozedere hat er schon bei der jüngsten Kommunalwahl gesammelt. Und auch im Auhof gibt es schon lange demokratische Mitsprache. Als er noch in der Werkstatt arbeitete, beteiligte er sich an der Wahl des Werkstatt-Rats. Und als Bewohner gibt er alle vier Jahre seine Stimme für die Bewohnervertretung ab – für diejenigen, die sich darum kümmern, „was sich mal ändern soll“, wie er sagt. Dabei werde auch an Menschen gedacht, die nicht lesen oder schreiben können, berichtet er. Sie werfen dann Stimmzettel mit den Gesichtern der Kandidaten in die Wahlurne.

Auch bei der anstehenden Bundestagswahl können sich Menschen mit Behinderung dank eines neuen Passus im Bundeswahlgesetz Unterstützung in der Wahlkabine holen. „Es gibt die Möglichkeit der Wahlassistenz“, sagt Jan Gerspach, Leiter des Ressorts „Leben mit Behinderung“ im Sozialverband VdK Bayern. Der Assistent darf zum Beispiel den Wähler in die Kabine begleiten und ihm dabei helfen, den Wahlzettel auszufüllen. Die Wahlentscheidung darf der Helfer dem Wähler aber nicht abnehmen.

Für Gerspach ist die Umsetzung des Gerichtsurteils eine Riesenschritt nach vorne. Einige Hürden gebe es aber noch immer. Denn nicht jedes Wahllokal sei barrierefrei – da bleibe für Menschen mit Behinderung dann nur die Briefwahl. Und auch bei der politischen Meinungsbildung sieht er noch Luft nach oben. „Zwar gibt es die Wahlprogramme mittlerweile in der Regel in einfacher Sprache.“ Aber viele Wahlkampfveranstaltungen seien nicht gerade auf Menschen mit Behinderung ausgelegt. „Da können die Parteien noch inklusiver arbeiten.“ Davon würden aus seiner Sicht nicht nur Menschen mit Behinderung profitieren, die ja eine nicht unwesentliche Wählergruppe sind. „Eine leichte Sprache hilft auch uns, politische Debatten besser zu verstehen.“

Die 38-jährige Tanja Meindl, ebenfalls Bewohnerin im Auhof mit rechtlicher Vollbetreuung, weiß noch nicht, ob sie ihr Wahlrecht wahrnehmen wird. „Ich bin unentschlossen“, sagt sie. „Das mit dem Wählen ist gut, aber auch ein bisschen aufregend.“ Bei der Kommunalwahl im vergangenen Jahr hat sie ihre Stimme noch nicht abgegeben. Bei dem großen Wahlzettel habe sie am Ende „den Überblick verloren“.

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