Unfallklinik Murnau, im Sommer 2019. Vor dem OP-Bereich ist die Ruhe am Morgen verflogen, es geht jetzt Schlag auf Schlag. Hubschrauber bringen die ersten Verletzten des Tages von morgendlichen Verkehrsunfällen in die Klinik.
Ein Mann sitzt geduldig vor dem OP-Bereich. Er fragt nach Dr. Susanne Sautmann, die als Anästhesistin im Unfallklinikum arbeitet. Der Mann muss warten. Er sieht die Verletzten, die von Pflegern im Laufschritt durch die im 30-Sekunden-Takt aufschwingenden Pforten geschoben werden und im OP-Bereich verschwinden.
Er wartet über eine halbe Stunde. Dann steht eine junge Frau im blauen OP-Kittel, Haube und Hose und dunkelblauen Gummigaloschen vor ihm. „Sie wollten mich sprechen? Ich bin Susanne Sautmann.“ Der Mann steht auf. Er schaut sie an, ist etwas verlegen. Doch er strahlt.
Kein Patient, denkt Susanne Sautmann, kann so strahlen. Das Gesicht des Mannes drückt unbändige Freude aus, als brächte er ein Geschenk.
Susanne Sautmann stutzt. Geschenke werden in einer Unfallklinik keine verteilt. Doch das Gesicht des Mannes kennt sie – von irgendwoher, von früher. Dann bricht der Mann sein Schweigen. „Ich bin der schwer verletzte Bergsteiger, den Sie im Herbst 2016 von der Alpspitze geholt haben. Ich war gestern bei der Bergwacht in Garmisch, um mich zu bedanken, da habe ich Ihren Namen erfahren. Auch wenn ich nichts mehr von meinem Sturz weiß: Ich wollte Ihnen einfach Danke sagen. Dass ich noch lebe, dass ich eine zweite Chance bekommen habe zu leben, habe ich Ihnen und Ihren Kollegen der Bergwacht zu verdanken. Der Tag meines Unfalls ist mein zweiter Geburtstag.“
Dann erinnert sich Susanne Sautmann an jenen Nachmittag im September 2016 an der Alpspitze.
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An einem Nachmittag im Mai warte ich an der Talstation des Hörnle in Bad Kohlgrub auf Susanne Sautmann. Weil auf dem Parkplatz sonst niemand ist, gehe ich auf eine junge Frau zu, die mir von der Bank neben der Liftstation aus wasserhellen Augen neugierig entgegenblickt. „Ich bin überrascht“, gehe ich auf sie zu, „ich hatte Sie mit Hund erwartet, den Sie gerade zum Lawinenhund ausbilden?“ „Den lasse ich lieber daheim“, antwortet sie, „wir hatten heute schon genügend Auslauf an meinem freien Tag. Emmi, mein Australian Shepherd, ist platt und schläft daheim.“ Wir nehmen den Weg zum Hörnle hinauf.
Meine Begleiterin ist sofort in ihrer Geschichte. „Mein erster schwerer Notarzteinsatz in den Bergen fand sechs Jahre nach meiner Ausbildung an der Alpspitze statt“, erzählt sie. „Ein Bergsteiger hatte einen alleingehenden Mann beobachtet, der in schottrigem Steilgelände ausgerutscht, abgestürzt und reglos liegen geblieben war. Er hatte sofort die Bergwacht verständigt.
Daraufhin flogen der Einsatzleiter und ich als Notärztin nach oben, begleitet von einem Notarzt sowie einem Notfallsanitäter, die beide fest der Hubschraubercrew angehörten. Schon beim ersten Überflug erkannten wir den Verunglückten von Weitem. Er lag im Oberkar tatsächlich reglos und mit verdrehten Gliedmaßen, als hätte er sich seit dem Aufprall nicht mehr bewegt. Allem Anschein nach war nicht auszuschließen, dass der Mann tot war. Nach dem Einsatzleiter war ich die Zweite, die aussteigen sollte. Um nicht zusätzlich Steinschlag im Hang auszulösen, winschte mich der Hubschrauber aus etwa 40, 50 Metern Höhe hinunter.“
Einen Moment betrachte ich die 39-jährige Ärztin, die den Fernblick vom Hörnle übers Voralpenland Richtung München genießt. Sautmann ist dort aufgewachsen, ein Großstadtkind, und von ihrer hochgewachsenen Gestalt her tatsächlich alles andere als ein typisches Nordwandgesicht.
Der Gedanke, sie mir am Seil 50 Meter über hochalpinem Absturzgelände vorzustellen, jagt mir leichte Schauer über den Rücken. Sie berichtet ruhig und ohne jeden Anflug von Eitelkeit weiter. „Ich bin runter und suchte nach einem Platz mit halbwegs gutem Stand, klinkte mich aus und querte den Abhang zum Patienten hinüber. Im Hinübergehen sah ich, dass ein Fuß des Verunglückten zuckte. Der Mann lebte! Ich habe sofort das Team aus dem Hubschrauber angefordert: den zweiten Notarzt und den Notfallsanitäter.
Meine medizinische Ausstattung war in einem Hüfttäschchen untergebracht. Es waren die notwendigsten Dinge zur Erstbehandlung eines Schwerverletzten am Berg: Material, um eine schwere Blutung abzubinden. Um Wärme zu erhalten. Ein Schlauch, um einem Bewusstlosen die Atmung über die Nase zu erleichtern.
Der Zustand des Patienten war nicht gut. Er war bewusstlos und nicht ansprechbar, ein leichtes Röcheln entfuhr ihm. Eine riesige Platzwunde zog sich über den Kopf, seine Bewusstlosigkeit rührte von einem vermutlich schweren Schädel-Hirn-Trauma, wir mussten von mehrfachen Gehirnprellungen ausgehen. Ein offener Bruch des Oberschenkels, ein verdrehtes Sprunggelenk. Ein Arm hing in unnatürlicher Haltung im Rucksack.“
Susanne Sautmann berichtet weiter. „Die schlimmsten Verletzungen waren jedoch der Kopf und der Oberschenkel des Beins. Er blutete aus beiden Wunden unablässig, sodass ich mir wegen des Blutverlusts Sorgen machte, der leicht zum Tod des Patienten führen konnte.
Der zweite Notarzt traf ein. Er war Chirurg und damit war die Aufteilung klar. Ich kümmerte mich, nachdem ich dem Mann einen Druckverband am Kopf erstellt hatte, als Anästhesistin um die Atmung und Herz-Lungen-Funktion, während der Chirurg das Bein versorgte.
Ich kniete am Kopf des Mannes, um ihm den Beatmungsschlauch einzuführen, und sah im Mund des Patienten wegen des grellen Nachmittagslichts gar nichts. Es war nicht übermäßig steil, aber loser Schotter, der keinem Halt bot. Im schlimmsten Fall wäre ich ein paar Meter abgerutscht, doch zum Arbeiten war es eine Herausforderung. Wir gingen davon aus, dass der Mann in Gefahr schwebte zu verbluten. Wir wussten, dass wir uns beeilen mussten, um ihn lebend ins Krankenhaus zu bringen.
Beatmungsschlauch. Beatmen. Narkose verabreichen. Das Bein schienen. Danach flog der Kollege mit dem Verletzten nach Murnau, wo der Mann erst in den Schockraum kam, um ihn wiederzubeleben, und später in den OP und danach auf die Intensivstation, wo ich ihn wiedersah, denn ich war von der Alpspitze wieder in die Klinik zurückgekehrt. Doch nach der Intensivstation verlor ich den Patienten aus den Augen.“
Wir haben auf unserer Wanderung ein gutes Stück zurückgelegt und sind aus dem Bergwald heraus. „Jahre später“, erzählt die Ärztin. „stand der Mann in Murnau plötzlich vor mir. Er hat sich wahnsinnig gefreut und sagte, er ginge wieder auf den Berg, allerdings mache er nur noch leichte Sachen. Er sagte, er sei vollkommen wiederhergestellt, bis auf das Sprunggelenk.
Auch die Unfallursache hatte er rekonstruiert. Er war allein unterwegs gewesen auf dem Abstieg über die Ostwand und den Grat, der zur Alpspitzschulter führt. Als er vor einem alten Abzweiger stand, der mit verwitterten Markierungen versehen war, führte ihn das vom Fels weg und hinein in schottriges, ungesichertes Steilgelände. Es war nur ein Versehen. Ein Moment der Unachtsamkeit, der von einem zweiten gefolgt wurde. Ein kurzer Stolperer, und der Mann stürzte ab.“
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Als ich an der Talstation wieder im Wagen sitze, geht mir wie immer das gerade geführte Gespräch nach. Ein Mann hat – gegen alle Wahrscheinlichkeit – eine zweite Chance bekommen zu leben. Mancher würde sagen, er habe großes Glück gehabt. Doch ich denke mir, wie leicht das Glück und die zweite Chance oft darin liegen, im entscheidenden Moment Leute um sich zu haben, die dank Ausbildung und jahrelangem Training die richtigen Entscheidungen treffen.