Bad Tölz – Am Tag vor seinem Prozess und der Hinrichtung in Stadelheim wurde der NS-Widerstandskämpfer Hans Scholl von der „Weißen Rose“ noch einmal von der Gestapo in München verhört. Der 24-Jährige berichtete dabei von seinen häufigen Aufenthalten in Bad Tölz und von den Ausflügen in die Isarwinkler Bergwelt. In einem neuen Buch entreißen der Tölzer Ortshistoriker Martin Hake und der langjährige Redakteur des Tölzer Kuriers Christoph Schnitzer diese kaum beachtete Seite in der Biografie des neben seiner Schwester Sophie wohl bekanntesten Kämpfers gegen die Nazi-Diktatur dem Vergessenheit.
Alles begann mit einem Zufall. Hake war eigentlich auf der Suche nach einem Dr. Hermann Scholl, der in dem Isarstädtchen in den 1920er-Jahren eine Sternwarte betrieb. Bei der Internet-Recherche stolperte er über den Namen Hans Scholl in Verbindung mit Tölz. Die Buchautoren gingen, wie Hake erzählt, den anfangs nur flüchtigen Spuren nach, woraus sich eine gar nicht so kleine historische Entdeckung entwickelte. Scholls Tölzer Aufenthalte waren nämlich keineswegs nur Episoden, sondern durchaus prägende Erlebnisse in seinem Leben.
Als Medizinstudent lernte Hans Scholl an der Münchner LMU den Kommilitonen Hellmut Hartert kennen. Die zwei freundeten sich an und bezogen eine gemeinsame Wohnung. An Wochenenden und in den Ferien fuhren die beiden häufig ins heute noch existierende Sommerhaus der Familie am Tölzer Kalvarienberg. Von dort aus wurden Rad- und Bergtouren unternommen. Die Aufenthalte dauerten teils viele Wochen und setzten sich auch fort, als Hartert und Scholl 1940 gemeinsam zur Wehrmacht eingezogen wurden. Hartert hat nach dem Krieg erzählt, dass Scholl schon damals „eindeutige politische Ansichten“ über das Nazi-Regime hatte. Man habe aber eher noch gespottet als an Agitation gedacht.
Über die Familie Hartert lernte Scholl auch die Familie von Eduard Borchers kennen. Der Chefarzt des Aachener Luisenhospitals besaß ein großzügiges Ferienhaus in Roßwies nahe Tölz. Borchers hatte sechs Kinder, von denen eines, Klaus, noch lebt und befragt werden konnte. Scholl sei häufig mit Begleitern – darunter auch seine Schwester Sophie und „Weiße-Rose“-Mitglied Alexander Schmorell – zu Gast gewesen. Der 91-jährige Klaus Borchers erinnert sich an „einen sportlich trainierten und blendend aussehenden Mann mit mitreißendem Temperament“. Er sei bei Hochwasser in die Isar gesprungen, habe sich ohne weiteres auf den Rücken von weidenden Pferden geschwungen. Die Geschwister hätten atemlos gelauscht, wenn er am Kamin erzählt habe. Von Politik sei gegenüber den Kindern nicht die Rede gewesen. Der Vater habe aber, wie er dies auch nach dem Krieg zu Protokoll gab, bei Spaziergängen mit Scholl über dessen Ansichten diskutiert und versucht, dämpfend auf ihn einzuwirken.
Scholls häufige und durch Fotos belegte Aufenthalte in Roßwies hatten noch einen anderen Grund: Er hatte sich in die 14-jährige Ute Borchers verliebt. Mit einem Brief beendete die Mutter die sich anbahnende Beziehung. Scholl zeigte Einsicht. „Mit einer Zigarette“, so schreibt er in einem Brief, „ist das aber nicht getan.“
Im letzten Gestapo-Verhör ist noch ein weiteres Mal von Bad Tölz die Rede. Scholl räumte ein, dass er Flugblätter der „Weißen Rose“ auch an zwei Haushalte in Bad Tölz geschickt habe. Nämlich dem Wirt Josef Poschenrieder vom „Walgerfranz“ sowie dem Veterinärarzt Dr. Josef Schneider. Er konnte der Gestapo auch recht einleuchtend erklären, wie er an die Adressen gekommen sei. Er habe „die intelligente Schicht“ aufrufen wollen und deshalb im Telefonbuch willkürlich nach Akademikern und Multiplikatoren gesucht.
Die Entdeckung von Hans Scholls vielfältigen Beziehungen nach Bad Tölz hat eine fast tragische Note. 2010 starb Marie-Luise Schultze-Jahn, die mit ihrem Freund Hans Leipelt nach der Hinrichtung der Scholls und ihrer Verbündeten das Werk der „Weißen Rose“ zunächst fortsetzte, ehe beide selbst verhaftet wurden. Leipelt wurde hingerichtet, Schultze-Jahn saß bis zur Befreiung durch die Amerikaner im Zuchthaus.
Später lebte sie Jahrzehnte in Bad Tölz und kämpfte unermüdlich gegen das Vergessen der Nazi-Diktatur. Von den vielfältigen und intensiven Beziehungen ihres großen Vorbilds Hans Scholl nach Tölz hat sie zeitlebens nichts geahnt.