Man braucht zu allen Zeiten, aber besonders in denen, die wie diese voller Anfechtungen stecken, feste Traditionen. Das Vertraute gibt einem Halt und zumindest für eine gewisse Zeit das Gefühl, es sei alles in Ordnung oder könnte immerhin wieder gut werden. Für mich ist Charles Dickens ein grandioser Schriftsteller, der zu Weihnachten und am Ende eines Jahres mit seinen feinsinnigen Worten Verlässlichkeit in Kopf und Herzen einziehen lässt.
Das „Weihnachtslied in Prosa“ vom Geizhals Ebenezer Scrooge, den die Geister der vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Weihnacht Mores lehren, bis er zum Menschen wird, ist unverzichtbare Lektüre oder der Film, den ich auch zum hundertsten Mal mit der gleichen inneren Bewegung anschaue. Zwischen den Jahren ist es sein Märchen „Silvesterglocken“, das verlässlich dafür sorgt, dass ich mich wieder richtig einsortiere.
Passend auch zum Wechsel von 2021 auf 2022 schreibt Dickens: „Das Jahr war sterbensalt an diesem Tag. Das geduldige Jahr hatte die Vor-würfe und Schmähungen seiner Lästerer überlebt und war getreulich mit seinem Werk zustande gekommen. Frühling, Sommer, Herbst, Winter. Es hatte sich durch den ihm angewiesenen Kreislauf gearbeitet und legte jetzt sein müdes Haupt nieder, um zu sterben. Abgeschnitten von aller Hoffnung, von allen starken Impulsen, von allem Lebendigen, und nur noch ein Bote vieler Freuden für andre, verlangte es weiter nichts, als dass man sich seiner vielen mühsamen Tage und geduldigen Stunden erinnere und es dann in Frieden hinscheiden lasse.“
Keine falsche Idylle, keine heimlich gebunkerten Feuerwerkskörper, nichts von schicken Glitzerroben und trunkener Champagnerseligkeit. Das Jahr, das manchen Glück und große Freude gebracht und dankbar gemacht hat, andere aber müde und unendlich erschöpft zurücklässt, traurig gar, voller Weh im Herzen, es geht. Abschiede mussten genommen werden, bittere, tränenreiche, die auch im nächsten Jahr nicht einfach überwunden werden können. Hoffnungen sind zerstoben. Es bleiben Erinnerungen. Immerhin.
Ein neues Jahr macht sich auf mit seinen Versprechungen, den Verheißungen, die wie bei Dickens immer realitätsverbunden sind. Ja, es kann einem bei manchem, was kommt, mulmig zumute werden – aber zugleich gibt es neue Wege, die man suchen und finden, die man dann auch offenen Auges zuversichtlich gehen kann. Das Jahr überlebt seine Lästerer, auch das nächste. Es kommen mit 2022 neue Hoffnung, starke Impulse und die Verbindung mit allem Lebendigen. So mag es werden.
* Susanne Breit-Keßler ist Vorsitzende des Bayerischen Ethikrates