Oberschleißheim – Dass er als ehemaliger Chemiker auf dem Streetlive-Festival stehen und Passanten für ein Entwicklungshilfeprojekt ansprechen oder Grundschulkindern die Kunst des Brillenbiegens vorführen würde, hat Dieter Jahr selbst wohl am meisten überrascht. Der 76-Jährige aus Oberschleißheim (Kreis München) stieß 2013 durch einen Zeitungsartikel auf das Projekt EinDollarBrille. Der Allgäuer Martin Aufmuth hatte eine Brille entwickelt, die Menschen in der Dritten Welt mit einfachen Hilfsmitteln handwerklich selbst anfertigen und an Fehlsichtige verkaufen können. Materialwert inklusive Kunststoffgläsern: rund ein US-Dollar. Die Gläser aus robustem Kunststoff gibt es in verschiedenen Stärken von minus zehn bis plus acht Dioptrien. Sie sind nicht eingeschliffen und lassen sich einfach ins Brillengestell klicken. „Die Brille korrigiert nur einfache Sehfehler. Wir arbeiten aber an Lösungen beispielsweise für Hornhautverkrümmung“, sagt Jahr. „Vielen Menschen können wir mit unserer EinDollarBrille bereits helfen.“
Dieter Jahr ließ sich zum Trainer für die Brillenherstellung ausbilden und gibt sein Wissen seitdem an andere Ausbilder, Optiker, Augenärzte, humanitäre Organisationen und Sponsoren weiter. Und immer wieder auch an Schulkinder in Oberbayern: „Sie staunen, wenn man ihnen erzählt, dass in Afrika etwa 80 Schüler in der Klasse auf dem Boden sitzen und an die Tafel schauen.“ Wer dort nicht richtig sehen kann, ist schnell abgehängt und wird als lernunfähig von der Schule genommen.
„Die EinDollarBrille entscheidet oft über ganze Lebenswege.“ Für die Schüler aus den Projektländern sind die Sehhilfen deshalb gratis. Die Eltern müssen an einem Gespräch teilnehmen und lernen unter anderem, wie die Brille gesäubert wird. „Wir leisten enorm viel Aufklärungsarbeit“, sagt Jahr. Erwachsene zahlen für ihre Sofortbrille zwischen fünf und zehn Dollar. Oft strecken afrikanische Arbeitgeber die zwei bis drei Tagelöhne vor, weil sie erkennen, dass Angestellte viel besser arbeiten, wenn sie gut sehen können.
Den Oberschleißheimer beeindruckt besonders die Nachhaltigkeit des Projekts: „Wir haben in den zehn angeschlossenen Ländern bis heute über 200 neue Arbeitsplätze geschaffen.“ Die Menschen vor Ort werden in der Brillenherstellung ausgebildet. Lernen, wie man die Sehstärke bestimmt, eine Brille anpasst und arbeiten dann auf eigene Rechnung. Stahldraht und Linsen werden zum Selbstkostenpreis aus Deutschland geschickt, das Know-how haben ihnen die Ausbilder in Seminaren beigebracht. Die Qualität wird in Deutschland kontrolliert, jeden Monat schicken die vier großen Werkstätten in Bolivien, Burkina Faso, Malawi und Indien Fotos von den Brillen aus ihrer Produktion. „Viele Entwicklungshilfeprojekte laufen nicht von selbst“, sagt Jahr. „Aber wir haben ein Werk für die Zukunft mit toller Wirkung geschaffen. Viele Menschen in unseren Projektländern arbeiten jetzt ein Leben lang als augenoptische Fachkraft und können sich und ihre Familien davon ernähren.“
Am spannendsten fand Jahr seinen Aufenthalt in Malawi. Er reiste für drei Wochen als Ausbilder an und stieß auf freundliche, aufnahmebereite und leistungsbewusste Menschen. „Sie fanden es erstaunlich, dass ein Mann aus Deutschland extra zu ihnen nach Afrika kommt, um ihnen ein Handwerk beizubringen“, erinnert er sich. „Ich glaube, sie fühlten sich geehrt.“ Und Jahr fühlte sich bestärkt in der guten Sache: Er war dabei, als Kurzsichtige ihre Umwelt mit der neuen Brille plötzlich ganz anders wahrnahmen. Dass es mit diesem Drahtgestell und zwei kleinen Gläsern endlich ein Hilfsmittel gab, das ihnen die Welt wieder ein großes Stück näherbrachte. „Ein Mann war so glücklich über die Vögel in seinem Umfeld. Zuvor hatte er sie immer nur gehört“, sagt Jahr. „Jetzt konnte er sie endlich sehen.“