München – Erste Stellungnahmen und Erklärungsversuche zum Fehlverhalten von Vertretern der katholischen Kirche gab es bereits: Der frühere Papst Benedikt XVI. ließ „redaktionelle“ Fehler einräumen und gab plötzlich doch die Teilnahme an einer Ordinariatssitzung zu, was er im Gutachten dreimal vehement bestritten hatte. Kardinal Friedrich Wetter übernahm Verantwortung: Der des Missbrauchs überführte Seelsorger Peter H. hätte nicht mehr in der Seelsorge eingesetzt werden dürfen.
Der amtierende Münchner Kardinal Reinhard Marx hat sich indes – abgesehen von einem knappen Statement am Tag der Veröffentlichung des Gutachtens – bislang in Schweigen gehüllt und seither mit seinen engsten Mitarbeitern die 1893 Seiten des Gutachtens studiert.
Was er heute in den Räumen der Katholischen Akademie Bayern in der Münchner Mandlstraße ab 11 Uhr verkünden wird, darüber herrscht großes Rätselraten. 60 Journalisten haben sich angemeldet, zahlreiche werden darüber hinaus die Internetübertragung verfolgen. Über die kirchenjuristischen Fehler hinaus, die Kardinal Marx in dem Gutachten zur Last gelegt werden – in zwei Fällen Missbrauchstäter nicht an die Glaubenskongregation gemeldet zu haben – wird Reinhard Marx erklären müssen, warum er sich nicht mehr um die Missbrauchsopfer gekümmert hat. Bei der Vorstellung des Berichts hatte der Jurist Martin Pusch betont: „Es greift zu kurz, auf die Zuständigkeit der Verantwortlichen in der Verwaltung zu verweisen. Das wäre Chefsache gewesen.“ Und dass Marx diese Verantwortung wahrgenommen habe, „war für uns nicht erkennbar“.
Großes Interesse richtet sich auch auf die Figur des obersten Kirchenrichters des Erzbistums, Prälat Lorenz Wolf. Der 66-Jährige ist als Leiter des Katholischen Büros, Domdekan und Vorsitzender des Rundfunkrates des Bayerischen Rundfunks sehr einflussreich. Ihm werden in zwölf Fällen, in denen er Missbrauchsvorwürfe gegen Kleriker klären musste, Fehler vorgeworfen. Nach Auffassung der Gutachter hat der Prälat einen Beitrag dazu geleistet, „dass einschlägig auffällig gewordene Priester vor Maßnahmen bewahrt wurden, die … insbesondere dem Ziel dienten, möglicherweise drohenden erneuten Übergriffen vorzubeugen“.
Gravierend sind hier die Vorwürfe, die der Betroffene Wilfried Fesselmann erhebt. Er war noch in Essen eines der ersten Opfer des Priesters Peter H.. Fesselmann war elf, als der Priester Peter H. nach einer Jugendfreizeit in seine Wohnung einlud, ihm Alkohol anbot und den damaligen Messdiener dazu zwang, ihn oral zu befriedigen. Mindestens zwei weitere Buben wurden damals in Essen Opfer. Der ganze Skandal kam ab 2006 ans Licht, nachdem Fesselmann sich in Psychotherapie begeben hatte. „Ich hatte Panikattacken und Probleme, meinen Beruf weiter auszuüben, ich wurde arbeitslos.“ Er habe die ganzen Jahre das Erlebte verdrängt, „bis es auf einmal aufbrach“.
Fesselmann schrieb Peter H. anonym eine E-Mail, in der er er ihn fragte, ob er nicht ein schlechtes Gewissen habe. „Es kam keine Antwort.“ Zwei Jahre später schrieb er wieder anonym. „Ich wollte eine Entschädigung haben, da ich arbeitslos geworden war und sehr unter den Spätfolgen litt.“ Kurz darauf stand die Polizei vor der Tür des Missbrauchsopfers: „Gegen mich wurde wegen Erpressung ermittelt.“ Im Gutachten steht, dass sich der Essener einer Beschuldigtenvernehmung unterziehen musste und seine Wohnung durchsucht wurde. Die Anzeige hatte Prälat Wolf erstattet. Die Ermittlungen wurden freilich eingestellt, als die Polizei Fesselmann als Opfer identifiziert hatte.
Die FDP und die Fraktion der Grünen im Landtag fordern wie berichtet, dass Wolf den Vorsitz des Rundfunkrats abgibt. Die Grünen schreiben: „Als Kernbotschaft nehmen Leser und Leserinnen des Gutachtens mit, dass Sie, Herr Wolf, eben nicht an Aufklärung und Abstellen möglicher Straftaten mitgewirkt haben, eher im Gegenteil… Ein Fazit der Verfasser des Gutachtens lautet, Sie hätten ,den kirchlichen und priesterlichen Interessen … deutlich den Vorrang gegenüber den Geschädigten eingeräumt’.“ cm/we/kna