München – Rainer Schießler wundert sich. „Ich sag seit 30 Jahren dasselbe, bloß da hat es keine Rolle gespielt“, so der umtriebige Pfarrer von St. Maximilian in München. „Wie oft hab ich mir anhören müssen, ich sollt meine eigene Kirche gründen, ich sei ein Rebell – und hab eigentlich nur dasselbe gesagt.“ Es gehe ja auch nicht darum, sexuelle Freiheit für Priester zu fordern, sondern klarzustellen, „dass das Evangelium genauso gut aufgehoben ist in den Händen und im Kopf eines verheirateten Mannes“.
Aber Schießler warnt auch vor übertriebenen Vorstellungen: Sollte der Zölibat wirklich fallen, werde das weder die Kirchen füllen noch den Glauben stärken. „Aber wir werden vernünftiger und glaubhafter rüberkommen. Wieso sollte der Ehestand ein Hindernis sein, ein guter Priester zu sein?“ Marx sei nicht der erste Bischof, der das infrage stelle. Der Zölibat sei kein Dogma, keine Glaubenswahrheit. „Das ist ein Kirchengesetz. Und Gesetze kann man ändern.“ Schießler ist klar gewesen, dass diese Entwicklung kommt: „Wir haben in 50 Jahren eine ganz andere Kirche – oder keine.“ Das sei eine spannende Entwicklung. „Es wäre dumm, jetzt aus der Kirche auszutreten, weil man dann daran nicht mehr mitwirken kann.“
Innerlich vertritt Pfarrer Josef Mayer, geistlicher Direktor von der Landvolkshochschule Petersberg in Erdweg (Kreis Dachau), nach eigenen Worten schon immer diese Haltung. Für ihn sind es zwei verschiedene Berufungen: die eine zur Ehelosigkeit, die andere zum Priesterdienst. Beides miteinander zu vermischen, hält Mayer für problematisch. Die Äußerungen von Kardinal Marx zeigten den richtigen Weg: „Man kann nicht sagen, dass jemand, der verheiratet ist, weniger berufen sein kann, diesen Dienst zu verrichten.“ Es sei höchste Zeit, hier etwas zu ändern. Mayer vermutet, dass die ganzen Auseinandersetzungen der vergangenen zwei Jahre auch bei Kardinal Marx den Sinneswandel bewirkt haben. Während Schießler in Bezug auf den Erzbischof das Bild bemüht von einem Mann auf dem Bahnhof, der einem abfahrenden Zug nachschaut, glaubt Mayer an einen Bewusstseinswandel. „Ich habe die ein oder andere Begegnung im Kopf, bei der ich das Gefühl hatte: Es beschäftigt ihn ungeheuer. Das ist ein ehrliches Ringen gewesen, das nicht erst vor zwei Jahren begonnen hat.“ Und jetzt habe Marx sicher einen Denkanstoß für den Synodalen Weg (siehe Kasten) setzen wollen.
„Und sie bewegt sich doch, die Kirche“, zeigt sich Elfriede Schießleder erfreut über den Vorstoß von Kardinal Marx. Die Theologin und stellvertretende Vorsitzende im Landeskomitee der Katholiken in Bayern ist sehr erleichtert. Die Zeit sei dafür reif, eine Verordnung, die 500 Jahre mit aller Macht durchgesetzt wurde, zu überprüfen. Die einen sollten sich freiwillig für den Zölibat entscheiden können, die anderen dürfe man aber nicht zwingen. Das Vorpreschen von Marx sei ein Signal für Rom, dass die deutschen Katholiken „nicht völlig durchgeknallt sind, wenn wir so etwas fordern“. Jetzt will auch ein wichtiger Kardinal ein neues Denken. „Ich kann mir schon vorstellen, dass es auch für diejenigen, die es sich bislang nicht laut zu sagen trauten, ein Anstoß zur offenen Diskussion ist.“ Noch 2019 indes hatte Kardinal Marx der Abschaffung des Pflichtzölibats eine klare Absage erteilt. Will er jetzt, nach den Belastungen durch den Missbrauchsskandal, sein Image aufpolieren? Schießleder glaubt eher, dass die Erkenntnisse der letzten Jahre ihn davon überzeugt hätten, dass sich etwas ändern müsse.
Die Forderung nach einer Abschaffung des Pflichtzölibats ist nach Einschätzung des Kirchenrechtlers Thomas Schüller nicht revolutionär. Vielmehr beschreibe Marx nur, was in der Geschichte der Kirche lange Zeit gängige Praxis gewesen sei. „Von daher riskiert Kardinal Marx mit seinen Äußerungen zum Zölibat nichts, sondern wiederholt gefahrenfrei für den Fortbestand seiner kirchlichen Karriere eine bereits von vielen Katholiken immer wieder geforderte Rückkehr zu einer in der Geschichte der katholischen Kirche lange Zeit bewährten Praxis“, sagt Schüller.