München – Es gibt Momente, die wird Eva Ohlerth nicht vergessen. Obwohl sie Jahrzehnte her sind. Zum Beispiel den Tag, an dem sie miterleben musste, wie eine Kollegin eine Seniorin anschrie, die in ihr Bett gemacht hatte. „Ich habe selten jemanden so angeschrien wie meine Kollegin damals“, erinnert sie sich. Es war einer von vielen Arbeitstagen, an denen sie abends nach der Arbeit weinte. Aus Wut auf Kollegen, die ihren Frust über den Zeitstress an Senioren auslassen. Ohlerth hat damals oft erlebt, dass Pflegekräfte die Arbeit bewusst falsch dokumentierten – um Missstände zu verbergen. Sie weigerte sich, das zu tun. Und wurde dafür von ihren Kollegen gemobbt. Hinter ihrem Rücken wurde über sie geschimpft – auch, weil sie sich für die Senioren mehr Zeit nahm, als sie eigentlich hatte. Sie geriet mit Kollegen aneinander, weil sie beim Frühstück Toast und Kaffee nicht vermanschen wollte, damit das Essen schneller geht. Oder weil sie sich weigerte, Klingeln außer Reichweite zu hängen, damit die bettlägrigen Patienten niemanden rufen können. Damals hatte sich Ohlerth wegen dieser Missstände an die städtische Beschwerdestelle gewendet. „Ich habe weinend erzählt, was in dem Heim passiert“, berichtet die 62-Jährige. „Und man sagte mir nur, dass man da nichts tun könne.“
Deshalb ist Eva Ohlerth skeptisch, ob die SOS-Anlaufstelle für Pflegekräfte die Situation in schlechten Heimen wirklich verbessern wird. Gesundheitsminister Klaus Holetschek (CSU) hatte diese Stelle angekündigt, nachdem das Augsburger Skandalheim am Wochenende geschlossen wurde (wir berichteten). Pflegekräfte sollen nun künftig auch anonym Missstände melden können. „Möglichkeiten, das zu tun, gibt es bereits“, sagt Ohlerth. Allerdings glaubt sie, dass selbst bei Anonymität in den Einrichtungen schnell klar wäre, von wem ein Hinweis kam. „Bestenfalls werden vielleicht einzelne Einrichtungen herausgezogen“, sagt sie. „Solange es aber so viele Pflegekräfte gibt, die Dokumentationen bewusst schönen, wird sich insgesamt nicht viel ändern.“
Eva Ohlerth ist nach ihren Erfahrungen desillusioniert. Sie hat damals gekündigt, eine Weile in der Schweiz gearbeitet – und jetzt als Coach für junge Pflegekräfte. „Gerade die Jungen sind oft hochmotiviert, wollen umsetzen, was sie gelernt haben“, berichtet sie. „Kollegen sagen ihnen dann, für Illusionen sei in diesem Beruf keine Zeit.“
Auch Georg Sigl-Lehner, der Präsident der Vereinigung der Pflegenden in Bayern (VdPB), glaubt, dass die SOS-Stelle nur ein erster Schritt sein kann. Die Angst vor Konsequenzen sei bei vielen Pflegekräften so groß, dass sie Missstände hinnehmen. „Obwohl bei der aktuellen Personalnot niemand fürchten muss, auf der Straße zu stehen.“ Auch an die VdPB könnten sich Pflegekräfte immer wenden. „Die Anzahl der gemeldeten Missstände steht aber in keinem Verhältnis zur Zahl der sicher unbedingt zu meldenden Situationen.“
Ohlerth erwartet von der Politik keine Beschwerdestelle – sondern, dass sie dabei hilft, dem Beruf Altenpflege ein besseres Image zu geben. Dazu gehöre eine akademisierte Ausbildung, sagt sie. „In manchen Heimen liegt die Fachkraftquote unter 50 Prozent.“ Hilfskräfte würden Aufgaben übernehmen, für die sie nicht ausgebildet sind. Motivierte junge Menschen würden sich eher für die Altenpflege entscheiden, wenn sie Kompetenzen erwerben und sich hocharbeiten können. „In der Schweiz habe ich erlebt, dass das funktioniert“, sagt sie. „Dort ist der Pflegeberuf viel geschätzter – und die Personalschlüssel besser.“ Um neue, motivierte Kräfte zu gewinnen, führt nichts an einem besseren Gehalt vorbei, betont sie. Vor zwei Jahren hatte sie deswegen mit einigen anderen eine Petition gestartet und ein Einstiegsgehalt von 4000 Euro für Altenpfleger gefordert. „Innerhalb kurzer Zeit hatten wir 500 000 Unterschriften.“ Das war damals, als Pflegekräften applaudiert wurde. Ohlerth wurde in Talkshows eingeladen. Doch von politischer Seite gab es keine Reaktion.