Als der ukrainische Künstler Matvei Vaisberg (63) am 24. Februar um fünf Uhr morgens einen lauten Knall hörte, wusste er sofort: Es ist Krieg. Das Haus in der Innenstadt Kiews bebte. Vaisberg schaffte es mit seinem 16-jährigen Sohn und seiner Frau zur ukrainisch-polnischen Grenze. Seine Flucht hat er auf Bildern festgehalten. Jetzt lebt die Familie in München.
Herr Vaisberg, wie geht es Ihnen?
So weit es möglich ist, geht es mir und meiner Familie gut. Aber ich denke jede Sekunde an Zuhause.
Was erhoffen Sie sich, wann können Sie wieder zurück?
Ich weiß nur, dass wir in der Minute unsere Koffer packen, in der eine Heimreise möglich ist. Als wir flüchteten, dachten wir: Das dauert drei Tage, dann können wir wieder zurück. Aber die Geschichte ging leider ganz anders aus.
Sind Sie mit dem Auto geflohen?
Nein, weder meine Frau noch ich haben ein Auto oder einen Führerschein. Uns haben Freunde mitgenommen. Sie holten uns ab: Steigt ein! Ich erwiderte, dass ich nicht mitfahren wolle, doch meine Familie überzeugte mich: Wenn du nicht fährst, dann fahren wir auch nicht. Das Auto war unser Boot.
Ihr Rettungsboot?
Ja. Das spielt auf einen Witz an, den mir mein Sohn erzählt hat. Möchten Sie ihn hören?
Gerne!
Ich habe jüdische Wurzeln, das vorweg. Also: Ein orthodoxer Jude ist auf einer einsamen Insel gestrandet und betet in einem fort: „Herr, errette mich!“ Ein Boot kommt vorbei. Er sagt: „Nein, der Herr errettet mich!“ Er betet weiter, bis ein Schiff auftaucht. Er lehnt wieder ab. „Nein, der Herr errettet mich!“ Schließlich fliegt ein Hubschrauber auf die Insel, und wiederum lehnt der Mann ab. Plötzlich erschallt aus dem Himmel eine Stimme: „Idiot! Ich habe dir ein Boot, ein Schiff und sogar einen Hubschrauber geschickt!“ Ich will damit sagen: Der Glaube sollte weltzugewandt sein.
So, wie es auch Ihre Kunst ist?
Ich male, um zu überleben. Das ist die einzige Weise, wie ich mich retten kann. Gerade in diesen Zeiten.
Und wie bannt man das nackte Grauen auf Leinwand? Sie lassen dem Betrachter die Wahl, wie tief er eindringen will – ohne Holzhammer-Methode.
Ich versuche heranzugehen wie eines meiner großen Vorbilder, der spanische Maler Francisco de Goya. Es sind schwarze Bilder, düster, dunkel.
Sollte Kunst politisch sein und die Welt beschreiben, wie sie ist?
Ich hatte mir früher nie vorstellen können, tagesaktuelle Themen auf die Leinwand zu bringen. Bis zum Jahr 2014, bis zur Maidan-Revolution und dem Krieg in der Ost-Ukraine. Hunderttausende demonstrierten damals auf dem Platz der Unabhängigkeit in Kiew für die Freiheit und gegen die Regierung Janukowytsch. Über Maidan habe ich einen ganzen Zyklus geschaffen, so mache ich es jetzt auch – allerdings im kleinen Format, ich bin ja unterwegs. Seit 2014 halte ich es für mein Recht und meine Pflicht, das darzustellen, was in meinem Land geschieht.
Wie konnten Sie auf der Flucht denn malen? Haben Sie skizziert?
Ich habe an der polnischen Grenze kleine Zeichnungen gemacht, die ich jetzt ausarbeite. Die Bilder sind nicht nur für mich – ich weiß, dass sich im Internet viele meine Werke anschauen. Das ist mein Beitrag gegen Putins Krieg und für den Frieden – das sind meine Möglichkeiten, mehr kann ich nicht tun.
Sind Sie denn stolz auf den Widerstand der Ukraine gegen Putins Soldaten?
Ja, ich bin sehr, sehr stolz. Ich hoffe, dass die Ukraine Putin die Zähne ausschlägt. Die Russen haben jetzt schon mehr Soldaten verloren als in den elf Jahren Krieg in Afghanistan von 1979 bis 1989. Die Ukrainer sind Helden geworden, und schuld daran ist Putin.
Welche Szenen auf der Flucht haben sich besonders nachhaltig in Ihr Gedächtnis eingebrannt?
Die Kinder. Die vielen Kinder. Wir haben vier Tage an der Grenze gewartet, bis wir sie überqueren konnten. Als wir ankamen, war die Menschenschlange schon 16 Kilometer lang – und sie wuchs stündlich weiter. Wir kamen zehn Meter in der Stunde voran. Wir waren furchtbar müde, aber ich dachte die ganze Zeit: Ich möchte zurück in meine Heimat, ich möchte zurück in meine Stadt Kiew. Ich habe noch kurz vor der Ausreise Freunde in Lwiw/Lemberg angerufen, das rund 70 Kilometer von der polnischen Grenze entfernt liegt, ob ich zu ihnen könne. Doch sie sagten mir, dass dies nicht mehr möglich sei.
Wo wohnen Sie jetzt?
Eine Freundin hat von sich aus angeboten, dass wir bei ihr in München leben können. Sie hat uns ihre Wohnung überlassen und lebt in Coburg. Ich bin berührt und von Herzen dankbar, wie gut wir in Deutschland aufgenommen wurden, aber daheim sind die Freunde, das Haus, ist alles.
Wie hielten Sie Ihre Familie auf der Flucht zusammen? Wie haben Sie die Angst vor dem Tod und den Verlust Ihrer Heimat beiseitegeschoben?
Wir haben zu dritt zusammengehalten. Wir denken völlig gleich – nämlich an das, was ist. An die Realität und reagieren darauf. Noch einmal unser Dank an die deutschen Freunde, die alles dafür tun, dass wir uns wohlfühlen und wir abgelenkt werden.
Werden Sie denn über Ihre Erlebnisse jetzt in Sicherheit weitere Bilder malen?
Es gibt für mich kein anderes Thema. Allerdings brauche ich erst einmal ein Atelier, ich würde gerne wieder großformatige Gemälde in Öl schaffen. Wenn jemand weiterhelfen kann, wäre das einfach wunderbar.
Sie hatten als Künstler sicherlich auch viele russische Freunde und Bekannte, mit denen man sich trifft und austauscht. Hat sich der Kontakt zu ihnen nach dem Kriegsausbruch geändert oder halten Sie länderübergreifend zusammen?
Die Ereignisse von Maidan vor acht Jahren haben schon zu einem Bruch zwischen russischen und ukrainischen Künstlern geführt. Und auch heute gibt einige wenige, die offen Solidarität zeigen und das Unrecht aussprechen, aber die allermeisten sind sehr vorsichtig mit ihren Äußerungen oder schweigen ganz.
Enttäuscht Sie diese Reaktion oder sagen Sie sich: Die haben halt Angst um ihr Leben.
Nein, ich bin nicht enttäuscht. Aber ich spüre und merke ganz deutlich: Uns ukrainische Künstler und die russischen Künstler unterscheidet immer noch mehr, trennt immer noch mehr –das gilt nicht nur für die Künstler, sondern für die beiden Völker überhaupt. Ich glaube, dass Putins Krieg den Graben so weit aufreißt, dass es endgültig kein Zurück mehr geben kann. Die Ukraine ist ein eigenes Land. Dieser Prozess hat 1991 eingesetzt und wird sich immer weiter verstärken, daran ändert ein Krieg gar nichts, im Gegenteil. Die Ukraine ist ein Land der Freien, Russland ist ein Land der Sklaven.
Sie sprechen allerdings Russisch und nicht Ukrainisch.
Ich spreche auch gerne Ukrainisch, aber Russisch ist meine Muttersprache. Und die werde ich nicht Putin überlassen.
Interview: Matthias Bieber
Anm. d. Red.: Als Übersetzer fungierte der deutsche Diplomat Rolf Welberts. Er war u. a. 1989 bis 1992 Ständiger Vertreter des Botschafters in der Ukraine. Von 2001 bis 2003 war der 1955 geborene Düsseldorfer Leiter des Informationsbüros der Nato in Moskau. Welberts lebt in München.