Marx: Missbrauch stellt System infrage

von Redaktion

VON CLAUDIA MÖLLERS

München – Das, was Kardinal Reinhard Marx am Montagabend im Münchner Künstlerhaus zu sehen und zu hören bekommt, ist schwere Kost. Sie wird präsentiert in Form einer literarischen Aufbereitung von Missbrauchsbewältigung, deren Klage auch in klassischer Klaviermusik ihren Widerhall findet. Aber auch in der Konfrontation mit Missbrauchsopfern – oder Überlebenden sexualisierter Gewalt durch Kleriker, wie die Betroffenen genannt werden möchten.

„Betroffene hören“ ist die Veranstaltung, die die Erzdiözese mit dem Betroffenenbeirat organisiert hat, überschrieben – und genau so doppeldeutig gemeint. Den Missbrauchsopfern soll zugehört werden, aber auch sie sollen hören, was der Kardinal zu sagen hat. Kein leichter Part für Marx, der sich erstmals in der Öffentlichkeit dieser Begegnung stellt.

Richard Kick, Unternehmer aus Eichenau (Kreis Fürstenfeldbruck), wurde als Kind von einem Priester missbraucht. Jetzt ist er Mitglied des Betroffenenbeirats der Erzdiözese und moderiert das Gespräch. „Ich habe zehn Jahre darauf gewartet, dass Sie mich ansprechen, dass Sie mir helfen, dass Sie mich unterstützen. Heute bin ich da, um Ihnen zu helfen“, sagt er zum Kardinal. Vor zwei Wochen hatte der Beirat Marx in einem offenen Brief aufgefordert, die Betroffenen „endlich empathisch wahrzunehmen“, sie persönlich zu treffen. Sie müssten das Gefühl haben, ernst genommen zu werden.

Reinhard Marx will zeigen, dass er verstanden hat. 2010 habe er das erste Mal mit Betroffenen gesprochen. Heute präsentiert er sich nachdenklich, leiser. Inzwischen sehe er es noch radikaler, dass sexueller Missbrauch im Raum der Kirche „das Gesamtsystem infrage stellt“. Er wolle sich „als Bischof nicht aus der Verantwortung ziehen“, dennoch müsse sich „die Kirche als ganze dem Thema stellen“ und nach den systemischen Ursachen fragen. Noch tiefer graben müsse man, räumt er ein und regt an, „weitere Formate zu finden, bei denen Betroffenen wirklich zugehört wird, auch bei den unangenehmen Themen“.

Wie schwierig das Gespräch mit Betroffenen ist, wird durch den Schauspieler Kai Christian Moritz klar. Er arbeitet mit im Betroffenenbeirat der Bischofskonferenz und macht mit einem Satz deutlich, wie schwer es Opfern fällt, nach dem erlittenen Trauma an einen liebenden Gott zu glauben: „Mein Täter hat mich auch geliebt und mir von der Liebe Gottes zu mir erzählt – gleichzeitig hat er mich anal penetriert. Wie kann man da die Kirche noch lieben?“ Auch die Anregung von Marx, dass die Betroffenen selbst beschreiben sollten, was sie von der Kirche brauchen, bringt keine einfache Antwort. Für Moritz kann das auch ein „vergiftetes Angebot“ sein, denn dann liege die Entscheidung, was getan werden müsse, wieder bei den Überlebenden. „Die Verantwortung liegt aber auf der anderen Seite.“ Die Frage, wie viel Geld als Anerkennungszahlung „genug“ sei, nennt Moritz delikat.

Einer, der es geschafft hat, die Kirche weiter zu lieben, sitzt nur wenige Meter von Moritz entfernt, am anderen Ende des Podiums. Pfarrer Thomas Semel (54), bisher Leiter des Pfarrverbands Haar (Kreis München) und Mitglied des Betroffenenbeirats, ist als Ministrant von einem Pfarrer missbraucht worden. Er sei trotzdem Teil dieser „Täterorganisation Kirche“ – obwohl er diesen Begriff nicht möge, denn ein Großteil der Priester lebe den Beruf mit großer Treue und viel Herzblut. Semel wird zum 1. Juni Seelsorger für Betroffene sexuellen Missbrauchs. Eine neu geschaffene Stelle im Erzbistum. Er weiß, dass er nicht der einzige Priester auf der Welt ist, der als Kind missbraucht worden ist. Trotzdem wird Semel, wenn er von seinem Drama erzählt, von Mitbrüdern als „Nestbeschmutzer“ betrachtet.

Die Betroffenen sind ungeduldig. Nicht nur, weil sie zwei Stunden warten müssen, bis sie nach Kulturprogramm und Diskussion ihre Fragen stellen können. Als sie von ihrem ewigen Kampf berichten, von der Kirche Geld etwa für Therapiekosten zu bekommen, wird deutlich: Vor allen Beteiligten liegt noch ein steiniger Weg. Der Kardinal sucht nach dem offiziellen Teil das Gespräch. Ein erster Schritt ist getan.

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