Stockdorf – Die Sache mit der Wäsche musste Ano erst mal eine Weile beobachten. Wolfhilde Braun hat da ihr eigenes System. Nasse Wäsche wird zum Trocknen aufgehängt – und zwar nicht über Stühle oder Tische, so wie Ano das bisher gemacht hatte. Sondern auf Bügel. Und wenn alles trocken ist, wird es ordentlich zusammengelegt und in den Schrank geräumt. Natürlich hat Ano dieses überzeugende System längst übernommen. Und auch vieles andere, das seine 90-jährige Mitbewohnerin ihm tagtäglich vorlebt.
Aber auch sie lernt von ihm. Der 21-Jährige hat ihr den Umgang mit dem Handy erklärt. Vor ein paar Tagen hat er das Vogelhäuschen im Garten repariert. Und hin und wieder kocht er afrikanisch für sie. Denn ursprünglich stammt Ano aus Simbabwe. Er kam vor zwei Jahren als AuPair nach Deutschland. „Meine Mutter wollte, dass ich selbstständiger werde“, erzählt er. Dieser Plan ging auf. Ano merkte während der Zeit in seiner Gast-Familie, wie viel Spaß es ihm macht, Kinder zu betreuen. Also begann er danach eine Ausbildung als Heilerziehungspfleger in einer Einrichtung für Kinder mit Behinderung. „Eigentlich wollte ich immer etwas mit Computern machen“, erzählt er. „Verdient hätte ich dann sicher mehr – aber jetzt bekomme ich bei meiner Arbeit mehr zurück.“ Allerdings verdient er in der Ausbildung nicht genug Geld, um sich eine Wohnung im Großraum München leisten zu können.
Da kommt Wolfhilde Braun ins Spiel. Sie hat sich genau wie Ano bei dem Projekt „Wohnen für Hilfe“ angemeldet. Die Idee ist, dass ältere Menschen freien Wohnraum zur Verfügung stellen. Junge Menschen können mietfrei wohnen, helfen dafür aber im Alltag und bringen etwas mehr Geselligkeit und Sicherheit in das Leben der Senioren. In Wolfhilde Brauns und Anos Fall ging diese Idee voll auf. Vom ersten Moment an.
Die 90-Jährige erinnert sich noch genau an ihre erste Begegnung. Beide hatten sich bei der Gautinger Insel für das Projekt gemeldet, mussten ein paar Fragen beantworten, dann fand das erste Treffen statt. „Wir haben beide sofort gelächelt, als wir uns gesehen haben“, erzählt Braun. „Du kannst bei mir einziehen, wenn du mir erklärst, wie mein Handy funktioniert“, sagte sie. „Das ist kein Problem“, sagte er. Für beide war klar: Diese Wohngemeinschaft wird funktionieren.
Sie haben sich nicht getäuscht. Inzwischen wohnen sie fast zwei Jahre zusammen. Ano nennt Wolfhilde Braun „Bibi“ – das ist ein afrikanisches Wort für Oma. Sie nennt ihn ihren „Brillanten“ oder „Goldschatz“, wenn sie über ihn spricht. WG-Regeln mussten die beiden gar nicht erst aufstellen – der Alltag funktioniert auch so. Wer sieht, dass die Waschmaschine voll ist, stellt sie an. Beim Kochen wechseln sie sich ab. „Zusammen funktioniert es nicht“, sagt Ano und lacht. Er liebt es, wenn Braun ihren legendären Kaiserschmarrn macht. Sie liebt es, wenn er sich abends nach der Arbeit zu ihr ins Wohnzimmer setzt und ihr von seinem Tag erzählt. Oder wenn er Freunde einlädt. Sie genießt es, dass wieder Leben in ihrem Haus in Stockdorf (Kreis Starnberg) ist, das nach dem Tod ihres Mannes plötzlich so still und leer war.
Streit hat es noch kein einziges Mal gegeben, beteuern beide. „Wir sprechen es offen an, wenn uns etwas stört“, sagt die 90-Jährige. So könne Streit gar nicht erst aufkommen. Zum Beispiel hat sie Ano erklärt, dass sie keine Lebensmittel wegwerfen möchte. Selbst wenn nur ein kleiner Rest Soße übrig bleibt, wird er abgefüllt und noch mal verwendet. Das hat Ano längst verinnerlicht. Dafür hilft er ihr, ihr Schulenglisch zu reaktivieren.
In der Küche steht ein riesiger Blumenstrauß. Pinke Rosen. Ein Geschenk von Ano zu Wolfhilde Brauns 90. Geburtstag vor ein paar Tagen. An den Blumen freut sie sich jeden Tag. Sie hat ihm zu Weihnachten den Führerschein geschenkt. Sie fährt zwar überall mit dem Fahrrad hin, aber der Gedanke, dass Ano sie in ihrem Auto fahren könnte, gefällt ihr. „Ich habe so viele Freunde, die allein in großen Häusern leben“, sagt sie. Wolfhilde Braun kann nicht verstehen, wie sie das aushalten. Seit Ano bei ihr wohnt, ist endlich wieder Leben im Haus, sagt sie. Sie hat noch ein Gästezimmer frei und hat ihm bereits angeboten, dass ein Freund von ihm dort wohnen könnte. Aber Ano ist noch nicht sicher, ob er seine „Bibi“ und ihren unübertreffbaren Kaiserschmarrn teilen möchte. Gerade planen die beiden erst mal ein Sommerfest im Garten. Und einen gemeinsamen Urlaub in Bozen. „Wir sind so ein gutes Team – wir machen alles gemeinsam“, sagt Wolfhilde Braun. Und Ano sagt: „Früher war ich ganz allein in Deutschland. Jetzt habe ich hier eine Familie.“