An diesem Wochenende ist Palmsonntag. Wie die meisten christlichen Feiertage hat er eine archetypische Dimension – er spiegelt etwas wider von den Grundstrukturen menschlicher Vorstellungs- und Handlungsmuster. In diesem Fall, beim Palmsonntag, geht es um Erwartungen. Laut biblischer Geschichte tauchen in Jerusalem Menschen auf, die vor Erwartung schier platzen. Der Mann aus Nazareth soll kommen.
Was machen riesige Erwartungen mit Menschen? Wie geht man damit um, damit sie Leben voranbringen und nicht zerstören? Aus dem „Hosianna“ am Palmsonntag wurden „Kreuzige ihn!“-Rufe. Keine Woche dauert es – und der Erwartete ist tot. Der Enthusiasmus verpufft, die Leute sind wie umgedreht. Voller Hass. Ein Menschenleben auf der Strecke geblieben.
Nicht immer endet es mit dem Tod. Der normale Wahnsinn reicht. Der Schriftsteller Max Frisch schreibt: „Du bist nicht, sagt der Enttäuschte oder die Enttäuschte, wofür ich Dich gehalten habe. Und wofür hat man sich denn gehalten? Für ein Geheimnis, das der Mensch ja immerhin ist, ein erregendes Rätsel, das auszuhalten wir müde geworden sind. Man macht sich ein Bildnis. Das ist das Lieblose, der Verrat.“
Wer wirklich liebt, der prüft, ob die eigenen Erwartungen dem anderen wirklich entsprechen. Die Menschen, die Jesus bejubeln, hatten Fantasien, wie er sein würde: groß, stark, einflussreich. Die Römer, die elende Besatzungsmacht, würde er aus dem Land fegen. Gewiss würde er auch dem Herrscher zeigen, wo der Hammer hängt – diesem habgierigen, unmoralischen Sack! Ja, so wird, so muss er es machen! Hat er aber nicht. Er ist sehr eigene Wege gegangen. Das kostet ihn Kopf und Kragen. Menschen sind unzufrieden, wenn man nicht so ist, wie sie einen haben wollen. Eine Folge ist die Hinrichtung – physisch oder mit vernichtenden Worten wahlweise eisigem Schweigen. Selber bleiben die Frustrierten auf sich und ihren Erwartungen hocken. Sie kommen nicht heraus aus ihrer kleinen, engen Welt.
Es geht aber auch anders. Der Sohn ist musikalisch? Dann sollte er das ausleben. Die Enkelin mag kein Ballett – Rudern oder Karate wären eine prima Alternative. Ein kleiner Träumer braucht für den Weg vom Kindergarten nach Hause lange, sehr lange. Schön, dass dieses Kind ein Auge hat für Schmetterlinge und die abblätternde Farbe des Gartenzaunes. Partner, Partnerin essen gern – hurra! Warum sollten sie dürr sein?
„Gespannte Erwartung wird selten befriedigt“, meinte Goethe. Viel zu egomanisch gedacht. Echte Erwartung auf andere Menschen, darauf, wie sie wirklich sind, wie man zusammenfinden kann – das ist aufregend, anstrengend und macht letztlich zufrieden. Denn immerhin stellt der andere Mensch ein Geheimnis dar, ein erregendes Rätsel, das auszuhalten lebendig hält. Kein Bildnis machen. Leben lassen. Nennt man Liebe.
* Susanne Breit-Keßler ist Vorsitzende des Bayerischen Ethikrates