München – Der Sozialausschuss des Landtags hat entschieden, für ehemalige Verschickungskinder in Bayern eine Anlaufstelle zu schaffen. Von 1945 bis in die 80er-Jahre hinein wurden Kinder zur Kur in Heimen in ganz Deutschland untergebracht und dort oft gequält oder geschlagen. Die SPD-Abgeordnete Doris Rauscher kämpft seit langer Zeit für die Aufarbeitung dieser Fälle und wirft den Regierungsparteien eine Verzögerungstaktik vor. Im Interview erklärt sie, warum die Anlaufstelle so wichtig ist – und warum ihr das Thema auch persönlich so am Herzen liegt.
Sie kämpfen schon lange dafür, dass die Schicksale der Verschickungskinder aufgearbeitet werden. Warum liegt Ihnen das so am Herzen?
Es gibt relativ viele ehemalige Verschickungskinder. Gerade in Bayern gab es ja auch viele Heime. Ich habe einige der Betroffenen kennengelernt und weiß, wie wichtig es für sie ist, dass das Unrecht von damals sichtbar gemacht wird und anerkannt wird. Die Kinder haben damals großes Leid erfahren. Nicht wenige von ihnen wurden geschlagen, gedemütigt, zum Essen gezwungen. Diese Misshandlungen haben tiefe Wunden hinterlassen, viele der Betroffenen sind noch immer traumatisiert.
Die Vorfälle liegen viele Jahrzehnte zurück. Warum ist so lange nichts passiert?
Ich glaube, das Thema war lange nicht präsent. Auch ich wusste nicht davon. Fast zufällig habe ich erfahren, dass auch meine Mutter ein Verschickungskind war. Immer, wenn wir über die Vergangenheit gesprochen haben, sagte sie: Früher hatten es alle nicht leicht. Es war für sie nie eine Option, sich aktiv irgendwohin zu wenden. Natürlich gibt es auch andere Betroffene, die dafür kämpfen, dass die Fälle von damals öffentlich werden. Und sie reißen wieder andere mit.
Viele ehemalige Heimkinder haben ihr ganzes Leben nicht über ihr Leid gesprochen. Reicht eine Anlaufstelle, um das aufzuarbeiten?
Ich bin froh, dass sie nun endlich Ansprechpartner bekommen, wenn sie reden möchten. Wie tief die Verletzungen sind, zeigt sich schon daran, dass den Betroffenen fast immer die Tränen kommen, wenn sie von damals erzählen. Allein die Möglichkeit, sich an jemanden wenden zu können, ist schon ein Zeichen der Wertschätzung.
Warum waren so viele politische Diskussionen nötig, um diese Anlaufstelle zu schaffen?
Das frage ich mich auch. Ich hatte schon vor mehr als einem Jahr beantragt, die Schicksale von Verschickungskindern ernst zu nehmen, die Vorkommnisse zu untersuchen und Betroffene zu unterstützen. Sie wollen in erster Linie keine finanzielle Entschädigung – sondern vor allem eine Aufarbeitung. Es geht um schwertraumatisierte Menschen. Ich habe mich maßlos geärgert, dass wir als Sozialausschuss bei so einem Thema nicht geschlossen auftreten können. CSU und Freie Wähler haben zum zweiten Mal unseren SPD-Antrag fast wortgleich ebenfalls eingereicht – und unserem Antrag dann nicht zugestimmt. Es ging um einzelne Formulierungen. Diese Debatte war unwürdig.
Wird auch bei der Aufarbeitung nun etwas vorangehen?
Das hoffe ich. Die Stelle muss nun aktiv beworben werden. Auch viele Träger der damaligen Heime widmen sich immer intensiver der Aufarbeitung. Die DAK hat dafür sogar einen Historiker eingestellt. Aber sie alle wünschen sich von der Staatsregierung eine Koordinierung. Sie können sich schließlich nur auf ihre eigenen Akten beziehen.
Viele Kinder von damals sind heute im Seniorenalter. Brechen alte Wunden jetzt noch auf?
Wir sollten dafür auf jeden Fall sensibel sein. Ich würde mir wünschen, dass das Thema auch in der Ausbildung von Psychologen oder Pflegekräften verankert wird. Viele der Betroffenen leben im Alter in einem Heim, die Erlebnisse von damals können schnell wieder hochkommen. Da reicht vielleicht einmal ein Nachtisch, der sie an die Verschickungsheime erinnert. Darauf sollten Pflegekräfte vorbereitet werden, um sensibel mit den Traumata umgehen zu können.
Interview: Katrin Woitsch