NATALIAS NEUANFANG

Lichtblicke in dunklen Zeiten

von Redaktion

58. Kriegstag. Eineinhalb Monate in München. Odessa wird nicht bombardiert, nur Luftalarme. Meist nachts. Feindliche Drohnen werden schon mal abgeschossen. Gott schütze unsere Stadt. Raketenangriffe gehen jedoch weiter. Zwei große Städte in der Nähe von Odessa werden ständig mit verbotenen Streugranaten beschossen. Neulich wurden fünf gezielte Raketenangriffe auf eine Stadt in der Westukraine durchgeführt. Die Welt beobachtet die Massaker an Menschen, aber bisher hat sich nichts zum Besseren gewendet. Vielleicht sogar umgekehrt. Es scheint nicht mehr undenkbar, dass die Leichen von Zivilisten wochenlang auf den Straßen liegen, neue Friedhöfe in Städten entstehen, weil die Toten einfach in Gräben bestatten werden, handgeschriebene Kalender an den Wänden in Kellern, mit deren Hilfe ukrainische Gefangene versuchten, die Zählung der Tage nicht zu verlieren, aber sie wurden trotzdem getötet… Zunehmend denke ich – das kann nicht sein. Ich möchte aufwachen.

Gleichzeitig ist München für mich eine neue Heimat geworden, sehr leutselig und schön. Nachdem ich anderthalb Monate in Gastfamilien gelebt habe, gelang es mir, eine Wohnung zu mieten. Wie durch ein Wunder, denke ich, aber es gelang mir. Neue Freunde halfen auch bei der Arbeit. Jetzt habe ich zwei Arbeitsstellen, was besonders erfreulich ist. Arbeit hilft mir, nicht zusammenzubrechen. Ich kann Gehalt beiseite legen, um einen Teil des Geldes nach Hause zu schicken. Jetzt sind meine Eltern arbeitslos und brauchen meine Hilfe mehr denn je.

Jeden Tag bewundere ich mehr die Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft der Münchner, sowohl Deutsch- als auch Russischsprachige, die seit vielen Jahren in Deutschland leben. Diese Woche traf ich den Ukrainer Mikhail Panchenko. Er und einer seiner Freunde haben begonnen, Menschen, die Hilfe brauchen, mit denen zu vereinen, die diese Hilfe leisten können. Ich selbst habe darüber geschrieben, aber die Jungs denken viel größer. Sie haben ein System geschaffen, das in der Lage ist, Menschen im ganzen Land zu koordinieren und so erfolgreich Hilfe zu leisten (www.ua-help.team). Mehr als 200 Freiwillige arbeiten bereits deutschlandweit, und die von IT-Leuten entwickelte Software sendet Anfragen von Flüchtlingen, die über Callcenter kommen, automatisch nur an diejenigen Freiwilligen, die wirklich die notwendige Hilfe leisten können. Sei es eine Frage der Unterkunft, der humanitären Hilfe oder der Sprachübersetzung. „Das Ziel des Projekts der UA Coordination Initiative ist es, alle Freiwilligenorganisationen und Hilfszentren mit unserem System zu verbinden, um die Bemühungen zu bündeln“, sagt Mischa. Er sagte auch, dass dank ihren Bemühungen bereits mehr als 300 Familien eine Wohnung gefunden haben. Immer mehr Organisationen schließen sich ihnen an, große Unternehmen stellen ihnen Entwickler und Callcenter zur Verfügung.

Alle arbeiten kostenlos, mit Begeisterung. Es ist für Kriegsflüchtlinge viel einfacher, eine einzige Hotline anzurufen und an die „richtigen Leute“ weitergeleitet zu werden, als selbst herauszufinden, wo man Hilfe beantragen kann. Mischa hofft, dass sich ihr Projekt entwickeln wird, und ich höre nie auf, solche Menschen zu bewundern, die ihre ganze Freizeit darauf verwenden, anderen zu helfen, ohne sich zu schonen. „In dunklen Zeiten kann man helle Menschen deutlich sehen“, sagte E. M. Remarque. Und es gibt so viele von ihnen.

Artikel 2 von 11