Heute ist Tag 86 seit Kriegsbeginn. Das Wochenende vor zwei Wochen war das anstrengendste in dieser ganzen Zeit. Alle bangten: Würde Russland am Tag des Sieges offiziell den Krieg erklären, um mit der Massenmobilisierung zu beginnen, oder nicht? Die folgenden Tage waren auch nicht gerade ruhig. Die Fragen werden immer mehr und immer quälender: Wird Russland eine zweite Front in Transnistrien eröffnen, um schließlich Odessa einzukreisen, oder nicht? Wie lange werden sie Odessa bombardieren? Ist ein Atomschlag auf die Ukraine möglich? Jeder neue Tag ist mit dem Gift der Ungewissheit durchtränkt.
Die Rekordzahl von Luftalarmen in der ganzen Ukraine im Laufe des Tages liegt jetzt bei mehr als zehn. Ein 17-jähriges Mädchen wurde durch den feindlichen Beschuss einer Siedlung mit Marschflugkörpern verletzt. Ein großes Einkaufszentrum, in dem ich oft Kleidung kaufte, wurde bombardiert. Es wird weiterhin versucht, die Brücke über die Dnister-Mündung zu zerstören, über die ich letztes Mal geschrieben habe. Eine weitere Rakete traf die Brücke. Die Ukrainer reagieren mit Humor: 5:0 zugunsten der Brücke.
Diese Woche war ich im Kreisverwaltungsreferat, um meinen Personalausweis zu bekommen. Dort traf ich eine ukrainische Familie, die ich vor zwei Monaten kennengelernt hatte. Oksana, eine Buchhalterin, ist 41, und ihre Mutter Elena, eine Grundschullehrerin, ist 72. Aus ihren Fenstern konnte man sehen, wie die Militäreinheit in den ersten Kriegstagen beschossen wurde. Elena ist behindert und benutzt einen Rollstuhl. Sie überlebte einen Schlaganfall und lernte wieder, Sätze zu bilden und deutlich zu sprechen. „Ich verstehe, dass ich meine Mutter niemals in die Ukraine zurückbringen kann, der Weg ist zu lang und das Herz meiner Mutter wird es nicht aushalten“, sagt ihre Tochter Oksana. „Ich bitte alle fürsorglichen Menschen, uns bei der Wohnungssuche zu helfen, damit wir in Deutschland bleiben können, damit die örtlichen Ärzte meiner Mutter helfen können, sich zu erholen. Natürlich plane ich, zu arbeiten und mich zu integrieren. Wir sind den Menschen, die uns in schwierigen Zeiten helfen, sehr dankbar. Ich hoffe wirklich, dass bald Frieden in unser Land kommt und unser Volk wird die Deutschen immer auch unterstützen.“
An jenem Tag sah ich zu, wie Oksanas Mutter Fingerabdrücke abgenommen wurden. Die rechte Hand ist gelähmt. Es war sehr schwierig. In diesem Moment dachte ich daran, wie viele behinderte Menschen leiden und gezwungen sind, ihr Leben in einem fremden Land zu verbringen. Und ich dachte auch, dass es gut ist, dass meine Großmutter vor zwei Jahren gestorben ist. Sie wurde in Russland geboren und erreichte ein Alter von 91 Jahren. Sie lebte in ihrer Jugend von der Hand in den Mund, tauschte selbstgewebte Stoffe gegen Lebensmittel, überquerte den Fluss in einer Wiege… Sie überlebte den Winterkrieg, den Deutsch-Sowjetischen Krieg, den Zerfall der Sowjetunion… Sie hatte alles in ihrem Leben, aber diesen Krieg, den Russisch-Ukrainischen Krieg, so scheint es mir, würde sie nicht überleben.