Pöcking/Filetto – Vito Altobelli will 78 Jahre danach nicht anklagen. „Die Schuld tragen alle“, sagt der 91-jährige Italiener. Er hat als 13-Jähriger in seinem Heimatdorf in den Abruzzen ein Verbrechen der Wehrmacht erlebt. In Filetto di Camarda erschossen am 7. Juni 1944 deutsche Soldaten 17 Männer und steckten das Dorf in Brand. Jedes Jahr gedenken die Filettesi dieses Massakers. Nun waren erstmals Deutsche an ihrer Seite.
Eine Delegation aus Pöcking am Starnberger See, alle drei Bürgermeister und Gemeinderäte aller Fraktionen, gedachte mit den Bürgern von Filetto der Erschossenen und legte einen Kranz nieder. Bürgermeister Rainer Schnitzler hielt eine kleine Ansprache. Vom Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier hatte er ein Schreiben dabei. Über die Verbrechen der Wehrmacht in Italien sei noch viel zu wenig bekannt, heißt es darin.
Das trifft wohl auch auf die Erschießungen in Filetto zu. In Pöcking lebte der Mann, der das Erschießungskommando befehligte: Matthias Defregger (1915-1995) war 1944 Hauptmann der Wehrmacht und später Weihbischof im Erzbistum München-Freising.. Pöcking benannte 1997 einen Weg nach ihm. Er wird vielleicht unbenannt.
Vito Altobellis Vater war unter den Erschossenen. „Sie haben uns aus dem Haus gezerrt“, sagt er. Frauen, Alte und Kinder unter 16 Jahren wurden an einem Platz zusammengetrieben, die Männer an einem anderen Platz. Auf dem Weg dorthin bot sich dem jungen Vito bereits ein Bild, das ihm traumatisch im Gedächtnis blieb. Sein Nachbar, der 65-jährige Antonio Palumbo, lag erschlagen auf der Straße. Daneben der deutsche Feldwebel, der mit seinen vier Untergebenen wochenlang im Dorf stationiert war, auch er tot. „Sie waren Freunde“, sagt Vito Altobelli. Offenbar hatte Feldwebel Paul Schäfer das Erschießungskommando wegen Palumbos Tod kritisiert und dafür selbst mit dem Leben bezahlt. So erzählt man es sich im Dorf. Vito, seine Mutter, seine zwei Schwestern und die zwei Brüder mussten in der engen Gasse über die Leichen steigen. Sie wurden auf eine Wiese einen Kilometer von Filetto entfernt gebracht. „Von dort haben wir gesehen, wie das Dorf in Flammen stand“, erzählt der alte Mann. Er spricht ruhig, fast ohne Emotion.
Wie lebt man mit diesen Bildern im Kopf? „Man schläft nicht, die Tränen kommen mir heute noch“, sagt der 91-Jährige. Die Familie kam zunächst bei Verwandten unter. Es dauerte lange, bis das Haus wieder aufgebaut war.
Den Besuch aus Pöcking bewertet er nicht. „Das ist mir gleichgültig“, sagt er. „Denn Worte helfen nicht.“ Die Schuld an dem Massaker sieht er nicht nur bei den deutschen Soldaten. „In meinen Augen haben alle Schuld, auch die Filettesi und die Partisanen.“
Die Erschießungsaktion der Deutschen war ein Vergeltungsschlag für einen Partisanenangriff am Vormittag des 7. Juni. Die Partisanen wollten das Funkgerät der Deutschen stehlen und erschossen bei dem Angriff einen Wehrmachtssoldaten. Als Folge bekam Defregger, Kommandeur der Nachrichtenabteilung der 114. Jäger-Division, den Sonderauftrag, alle Männer aus Filetto erschießen zu lassen.
1969 holte das Massaker von 1944 den ehemaligen Wehrmachtsoffizier ein. Doch Gerichtsverfahren in Frankfurt und München sowie eines in Italien wurden eingestellt. Defregger reiste trotzdem nicht nach Filetto, überhaupt nicht mehr nach Italien. „Es hat sich kein Soldat mehr bei uns blicken lassen“, bestätigt Vito Altobelli. Er selbst hat das Dorf als junger Mann verlassen, auch wegen der Arbeit. Für die Rente kehrte er zurück.
Ganz kalt lässt ihn der Besuch und das Interesse der Pöckinger offensichtlich doch nicht. Er erzählt bereitwillig seine Geschichte. Und dann ist es ihm wichtig, Bürgermeister Rainer Schnitzler die Stelle im Dorf zu zeigen, wo der tote Palumbo und der tote Schäfer lagen.