Dachau – Manchmal sind es die kleinen Erlebnisse, die vergangene Zeiten wieder lebendig werden lassen: die Erfahrungen der Nachbarin, der Alltag des Dorf-Handwerkers, die ersten Kontakte der Flüchtlinge in der neuen Heimat oder die Beobachtungen der jungen Burschen von nebenan. Und genau diese Erlebnisse spüren die knapp 30 ehrenamtlichen Forscher der Geschichtswerkstatt im Landkreis Dachau auf. Heute Abend werden sie dafür von Finanz- und Heimatminister Albert Füracker (CSU) mit dem Heimat-Preis Bayern ausgezeichnet. Die Ehrung geht jedes Jahr an zwei Preisträger pro Regierungsbezirk für „herausragende Dienste um die bayerische Heimat“.
Die Geschichtswerkstatt arbeitet seit zwölf Jahren die Regionalgeschichte von Dachau und dem Umland auf. „Jeder forscht in seiner Gemeinde“, erklärt Kulturwissenschaftlerin Annegret Braun, die das Projekt leitet. „So erfährt man viel über die eigene Heimat. Das ist auch für mich als Zuagroaste sehr interessant.“ Die Helfer gehen in die Archive, studieren historische Dokumente und interviewen Zeitzeugen. Sie haben sich schon mit der Nachkriegszeit, der Zeit der 50er-Jahre sowie den Themenbereichen Handwerk und Gewerbe beschäftigt. „Wir erleben eine große Gesprächsbereitschaft, fragen aber auch kritisch nach“, betont Braun.
Manche der Geschichten sind traurig und beklemmend – wie die Beobachtungen von zwei jungen Burschen gegen Ende des Zweiten Weltkrieges. Als eigentlich schon alles verloren war, versuchten vier Soldaten zu fliehen – und wurden von Feldjägern aufgegriffen. „Die Burschen haben gesehen, wie die Deserteure in einem Schnellgerichtsverfahren zu Tode verurteilt und danach hingerichtet wurden“, berichtet Braun.
Ein Projekt innerhalb der Geschichtswerkstatt beschäftigt sich mit der Lebensgeschichte von Menschen, die während der NS-Zeit im Konzentrationslager in Dachau waren. Eine dunkle Zeit, über die später lange lieber nicht geredet wurde – oft nicht mal in der eigenen Familie. Die Mitarbeiter der Geschichtswerkstatt haben zum Beispiel die Vergangenheit eines Arztes aus dem Dachauer Hinterland erforscht. Er war zwar in der Partei, um Medizin studieren zu können, hat aber gleichzeitig Menschen vor dem Nazi-Regime gerettet. „Als Lazarett-Arzt hat er die Beschneidungsnarbe von Juden umoperiert, um sie zu retten“, erzählt Annegret Braun. Anderen Männern wiederum hatte er falsche Atteste ausgestellt, um sie vor dem Militärdienst zu bewahren. „Die Familie des Arztes war selbst überrascht, als sie davon erfahren hat“, sagt Braun.
Interessant ist für die Geschichtswerkstatt auch der normale Alltag der einfachen Bevölkerung. Zum Beispiel gab es zwei Schneiderinnen, die sich in der Nachkriegszeit den Luxus eines der ersten Fernseher im Dorf gegönnt hatten. „Am Nachmittag war ihre Stube voll mit Kindern und am Abend sind die Erwachsenen zum Fernsehen gekommen“, erzählt Braun. „Wir versuchen auch, interessante Frauen aufzuspüren.“ Das ist zwar nicht immer einfach – aber das Suchen lohnt sich. Die Forscher haben zum Beispiel zwei Wagner-Witwen gefunden, die nach dem Tod ihres Mannes selbstständig den Betrieb fortführten, oder eine Tochter, die Hammerschmiedin lernte, um das elterliche Geschäft zu übernehmen. Ungewöhnlich für eine junge Frau war auch der Job, den eine 17-Jährige bei einer lokalen Getränkefabrik hatte. „Mit dem Lastwagen hat sie Getränke ausgefahren“, erzählt Braun. Einen Führerschein? Besaß das Mädchen nicht. Nach einer Polizeikontrolle landete sie vor Gericht – doch am Ende nahm die Sache ein gutes Ende: „Der Chef hat erlaubt, dass die Frau den Führerschein machen durfte.“
Es gibt noch viele solche Geschichten zu entdecken im Landkreis Dachau. Schon im Herbst soll das nächste Projekt der Geschichtswerkstatt starten: „Dann geht es um die Veränderung von Natur und Landschaft “, verrät Annegret Braun. „Weitere Helfer sind immer willkommen.“ CLAUDIA SCHURI