München – Olaf Scholz neigt eigentlich nicht zu Gefühlsausbrüchen. Doch als vor gut einem Jahr ein Gutachten zur Rentenpolitik erschien, klang der heutige Kanzler beinahe zornig. „Die Vorschläge dieses sogenannten Expertengremiums sind falsch gerechnet und unsozial“, schimpfte Scholz – damals noch Finanzminister.
Was den SPD-Politiker so aufregte, war eine 67-seitige Einschätzung des Wissenschaftlichen Beirats des Bundeswirtschaftsministeriums, die „schockartig steigende Finanzierungsprobleme in der gesetzlichen Rentenversicherung ab 2025“ prognostizierte. Solle das Rentenniveau über 2025 hinaus bei 48 Prozent und der Beitragssatz bei höchstens 20 Prozent stabilisiert werden, müsste 2045 mehr als die Hälfte des Bundeshaushalts als Zuschuss in die Rente fließen. Die Experten empfahlen, auch nach Erreichen der Rente mit 67 im Jahr 2031 das Renteneintrittsalter weiter anzupassen.
Für Scholz eine Nachricht, die er nicht gebrauchen konnte. Denn der SPD-Kanzlerkandidat versprach im Wahlkampf trotz aller Probleme ein langfristig stabiles Rentenniveau.
Seine Argumentation: All die Renten-Horrorszenarien seien bislang wegen hoher Beschäftigung nie eingetreten. Auch ein höheres Renteneintrittsalter werde nicht nötig sein. Doch dieser Einschätzung widersprechen nüchterne Zahlen, wie Valerie Leukert vom Bayerischen Landesamt für Statistik jetzt vorrechnete: Im Jahr 2040 werden auf 46 Personen im Ruhestandsalter 100 Personen im erwerbsfähigen Alter kommen. Im Jahr 2020 lag dieses Verhältnis noch bei etwa 34 zu 100 Personen.
Professor Rainer Winkel von der TU Berlin zieht aus diesen Zahlen das Fazit: „Das sukzessive Heraufsetzen des Renteneintrittsalters bis 2030 auf 67 Jahre reicht bei Weitem nicht, um die Rente zukunftssicher zu machen.“ Es könne nicht sein, „dass seit der Festlegung des Alters für den Ruhestandseintritt im Jahr 1900 die durchschnittliche statistische Lebenserwartung um circa 90 Prozent angestiegen ist und der Rentenbeginn sich immer noch am Lebensalter von 65 bis 67 Jahren ausrichtet.“
Prof. Winkel plädiert deshalb für eine längere Lebensarbeitszeit, die aber flexibel gestaltet werden müsse: „Darin könnte die körperliche wie auch die psychische Belastung von Berufstätigkeit Berücksichtigung erfahren“, sodass der viel zitierte Dachdecker eben nicht noch mit 68 oder 70 arbeiten müsste.
„Sinnvoll wäre auch ein Lebenszeitmodell, sodass Personen, die sich dazu in der Lage fühlen, zeitweilig eben deutlich mehr als 40 Stunden in der Woche arbeiten, um später ihre wöchentliche Arbeits- oder Lebensarbeitszeit entsprechend zu kürzen.“
Der Chef des DGB Bayern Bernhard Stiedl hält nichts von diesen Vorschlägen: „Wer die Rentenfinanzen in Zukunft sichern will, muss vordringlich den Niedriglohnsektor in diesem Land bekämpfen und nicht das Rentenalter oder die Wochenarbeitszeit erhöhen.“
Jochen Pimpertz vom Institut der deutschen Wirtschaft warnt, dass eine mögliche Wirtschaftskrise im Zuge der Gas-Knappheit den Reformdruck noch weiter verschärfen würde. Grundsätzlich ließen sich fehlende Einnahmen zwar tatsächlich auch über höhere Beschäftigung kompensieren, sagt Pimpertz – „in einer Krise wäre das aber ausgeschlossen“. Zunächst würden Instrumente wie das Arbeitslosengeld I oder die Kurzarbeitsregelung zwar noch helfen, die Einnahmen der Rentenversicherung zu stabilisieren. Ziehe sich das Ganze aber mehrere Jahre oder gar ein Jahrzehnt hin, gäbe es dauerhaft Einnahmeausfälle.