NATALIAS NEUANFANG

Ein zweigeteiltes Leben

von Redaktion

Morgen ist der 150. Kriegstag. Der Krieg dauert endlos lange. Militäranalytiker sagen voraus, dass die Kämpfe in der Ukraine nicht länger als sechs Monate dauern und sich dann zu einem „eingefrorenen Konflikt“ entwickeln werden. Es scheint mir aber, dass dieser Krieg niemals enden wird. Russische Kampfflugzeuge werden jede Woche über der Ukraine abgeschossen, Bürger werden regelmäßig von Minen in die Luft gesprengt, wenn sie im Meer schwimmen gehen. Ukrainer hier und dort leben in ständiger Angst. Für die Menschen, die in der Ukraine geblieben sind, hörte das Leben auf. Für die, die geflüchtet sind, fühlt es sich an wie ein zweigeteiltes Leben.

Für mich ist es viel schwieriger geworden, über mich selbst zu schreiben, seit das russische Militär begonnen hat, meine Heimatregion zu bombardieren. Es ist immer eine Qual, die Nachrichten zu verfolgen. Einer der blutigsten Angriffe war die Bombardierung des großen Kurortes Serhijiwka Ende letzten Monats. 20 Menschen starben, darunter ein Kind. Der Beschuss fand vier Kilometer vom Wohnort meiner Eltern entfernt statt. Die Explosion war so laut, dass meine Mutter vor Schreck aus dem Bett fiel. Am Montag trafen zwei Raketen die Militärdepots so nahe, dass meine Mutter den Rauch der Explosion am Horizont sehen konnte. Sie sagte, dass es sehr beängstigend war, als sie die Raketen hörte. Sie flogen mit starkem Dröhnen vorbei und waren wegen der Wolken nicht zu sehen. Mama wusste nicht, wohin sie flogen und wann sie explodieren würden.

Aber das Leben geht weiter und ich freue mich über jedes neue Ereignis, das mir in München passiert. Mir wurde die letzten Wochen klar, dass es in dieser Stadt eine unglaubliche Vielfalt an Freizeitaktivitäten gibt. Man kann in die Berge gehen, schwimmen, Konzerte besuchen, in grünen Parks im Herzen der Stadt entspannen. Zuerst hat mich die Familie, bei der ich ein Zimmer gemietet habe, eingeladen, über den Ammersee zu segeln und dann im Schlauchboot über die Amper zu schippern. Da ich am Meer aufgewachsen bin und es diesen Sommer so sehr vermisse, ist für mich Erholung auf dem Wasser immer ein Abenteuer. Die bayerischen Süßwasserseen und Flüsse mit bewaldeten Küsten unterscheiden sich jedoch stark vom salzigen Schwarzen Meer mit den langen Sandküsten. Als ich in der Mitte des Sees vom Boot gesprungen war, wurde mir klar, dass ich vorsichtiger sein, mich vor den Strömungen hüten und gut auf dem Wasser bleiben muss. Ich bin der Familie, mit der ich im selben Haus lebe, sehr dankbar. Sie behandeln mich wie ein Familienmitglied und ich spüre immer ihre Unterstützung. Sie sind Herzensmenschen, die mir helfen, an Güte, Licht und Hoffnung zu glauben.

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