Vor 60 Jahren: Der Krimi um die Madonna

von Redaktion

VON CHRISTIAN WÖLFEL

Volkach – Der laufende Motor eines Pritschenwagens weckte Mesner Philipp Jäcklein um kurz nach vier Uhr am 7. August 1962. Erst dachte der damals 71-Jährige, es habe sich jemand verfahren. Doch als die Geräusche an der Kapelle „Maria im Weingarten“ oberhalb Volkachs in Unterfranken nicht verstummten, ging er ans Fenster. Der Mesner sah nur noch die Rücklichter. Mit dem Transporter verschwand auch die berühmte Madonna „Maria im Rosenkranz“ von Tilmann Riemenschneider (1460 bis 1531). Der spektakuläre Kunstraub jährt sich heuer zum 60. Mal.

Die Diebe, die nach Sonnenuntergang die berühmte Wallfahrtskirche mitten in den Weinbergen heimsuchten, ahnten nicht, was für eine wertvolle gotische Schnitzerei sie neben anderen Preziosen unter großen Anstrengungen entwendet hatten. Über ein Fenster ließen sie sich mit einem Seil ins Kircheninnere hinab, stundenlang arbeiteten sie daran, die Madonna abzumontieren. Sie fiel herab, der Rosenkranz zerbrach, auch Engelsflügel und musizierende Putten gingen zu Bruch.

Die Stimmung auf der Rückfahrt von Volkach nach Bamberg muss angesichts des erfolgreichen Diebeszuges prächtig gewesen sein. So lange, bis sie in Oberfranken ihr Komplize, ein Bildhauer, auf den Boden der Realität zurückholte. „Ein Riemenschneider, den können wir nicht verkaufen“, wird der Experte in Presseberichten aus den 1960er-Jahren zitiert. Einer der Diebe soll danach gesagt haben: „Dann wird die Ludsi eben verbrannt.“ Der Bildhauer jedoch beschmierte das etwa eine Million Mark teure Schnitzwerk mit rotem Bohnerwachs und vergrub es auf seinem Grundstück in Hollfeld.

Auf der Suche nach den Tätern tappte die Polizei lange im Dunkeln. Auch allabendliche Andachten der Gläubigen, in denen sie den Beistand der Gottesmutter erflehten, ließen die Madonna nicht zurückkehren. Das Kunstwerk wäre vielleicht bis heute verschollen, hätte sich nicht Verlegerlegende Henri Nannen eingemischt. Der studierte Kunsthistoriker beriet sich mit einem einstigen Kommilitonen, dem Leiter des Mainfränkischen Museums, Max Hermann von Freeden. Beiden war klar, um welchen Schatz es geht. Riemenschneider gilt als einer der prägendsten Bildhauer in der Übergangszeit von der Spätgotik zur Renaissance.

Am 21. August 1962 erschien im „Stern“ die Aufforderung „Gebt die Madonna von Volkach zurück!“ Auch viele fränkische Blätter druckten den Appell: Den Dieben wurden Verschwiegenheit und ein Lösegeld von 100 000 Mark zugesichert.

Als nichts geschah, drohte Nannen die Summe für die Jagd auf die Täter zu verwenden. Daraufhin meldete sich ein Mann namens „Leininger“ beim „Stern“ und beschrieb auf Wunsch Einzelheiten des Bildwerks. Am 26. Oktober erhielten die Diebe die erste Hälfte des Lösegeldes, am 4. November schließlich im mittelfränkischen Großgründlach im Austausch gegen die Holzfigur den zweiten Teil. Am 12. November fuhr Nannen die Madonna schließlich ins Mainfränkische Museum. Nach eigenen Worten war es „der glücklichste Tag“ seines Lebens.

Das Riemenschneider-Werk musste aufwendig restauriert werden, am 6. August 1963 kam es wieder nach Volkach, 364 Tage nach dem Raub. Nannen stand zu seinem Rückkauf, auch wenn er sich dem Verdacht der Begünstigung aussetzte. „Es ging mir allein darum, die Kunstwerke vor der Vernichtung zu retten“, erklärte der Verleger später vor Gericht. Und ein einmal gegebenes Wort müsse auch gegenüber Verbrechern gehalten werden. „Das haben sogar Moraltheologen festgestellt.“ Die Volkacher dankten es Nannen mit der Ernennung zum Ehrenbürger.

Die Diebe wurden am Ende doch noch zur Rechenschaft gezogen. Der Tipp eines Ex-Häftlings brachte die Polizei Jahre später auf ihre Spur. Sie mussten für mehrere Jahre hinter Gitter. Die Madonna ist seit 1963 mit einer Alarmanlage gesichert. Die Volkacher pilgerten noch lange jedes Jahr nach „Maria im Weingarten“.

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