Kirchheim/Augsburg – Elisabeth Vopper geht am liebsten im Gögginger Wäldchen spazieren. Das liegt rund eine Stunde vom Augsburger Kinderkrankenhaus Josefinum in Oberhausen entfernt. Am 14. Mai 1969 bricht die 20-Jährige schon um sechs Uhr morgens am Schwesternwohnheim auf. Einmal durchatmen und abschalten, bevor die Kinderkrankenschwester in Ausbildung wieder hart im Schichtdienst schuften muss.
Was danach an jenem Tag im Wäldchen passiert, weiß bis heute niemand. Lisa, so nennen sie ihre Mitschülerinnen, kehrt nie zurück. Gegen elf Uhr findet die Polizei ihre Leiche. Bis auf ihre Strickjacke ist die junge Frau völlig entblößt. Jemand hat sie erwürgt und ihr dann die Halsschlagader mit einem Messer durchgeschnitten. Vergewaltigt wurde sie offenbar nicht.
Als Vopper ermordet wird, besucht auch Veronika Böhm die Schwesternschule. „Ich muss oft an Lisa denken – und das nach 53 Jahren“, sagt die 71-Jährige und schüttelt den Kopf. „Ich finde es unglaublich, dass der Mörder bis heute nicht bekannt ist.“ Böhm sitzt in ihrem Garten in Kirchheim bei München und blättert in ihrem Fotoalbum. „Der Fall hat mich nie losgelassen. Ich schaue im Internet oft nach, ob es etwas Neues gibt.“
Böhm wird in Dachau geboren, wächst in Oberhaching auf. 1968 zieht sie eigens für einen der umkämpften Ausbildungsplätze am Josefinum nach Augsburg. Sie ist das Älteste von sechs Kindern und will deshalb Kinderkrankenschwester werden. Die Schule ist hart, die Regeln der Ordensschwestern streng, aber die Zeit schön, erzählt Böhm.
„Lisa war einen Kurs über mir. In drei Jahrgängen waren wir um die 100 Schülerinnen. Man kannte sich also gut.“ Sie rotieren durch Stationen im Krankenhaus, arbeiten mit Früh- und Neugeborenen, in der Milchküche, in Chirurgie und Orthopädie. Im Wohnheim essen, quatschen und feiern alle zusammen. Der 14. Mai 1969 aber ist ein schwarzer Tag.
28 Zeugen haben den Mörder von Lisa Vopper an diesem Morgen angeblich gesehen. 15 konnten der Polizei sogar eine detaillierte Personenbeschreibung geben. Die Original-Akte gibt es noch. Kriminalrat Bernd Krämer von der Kripo Augsburg liest vor: „Ein Mann mit einem blauen Fahrrad und einem Fernglas soll dem unberührten Mädel gefolgt sein.“
Als Vopper ermordet wird, kommt der heute 60-Jährige gerade in die Schule. 3000 Plakate mit Phantombild und tausende Handzettel in sechs verschiedenen Sprachen verteilen die Beamten damals, um den Mörder zu finden. 70 Mann überprüfen 1200 Personalien und nehmen 150 000 Fingerabdrücke – laut Krämer ein enormer Aufwand. Aber in Augsburg gibt es zu viele blaue Fahrräder. Die damaligen Ermittler sind heute längst tot oder schon lange in Pension. „Der Fall Vopper ist hier einer von 26 ungeklärten Mordfällen und damit ein Cold Case“, sagt Krämer. „Allerdings ist er in der Bevölkerung seltsam präsent. Wir bekommen immer wieder Hinweise.“ Zuletzt 2019. „Die meisten decken sich mit früheren Hinweisen“, sagt Krämer. Trotzdem: „Wir gehen jedem nach und arbeiten auch mit anderen Stellen zusammen. 2009 hat die Operative Fallanalyse in München den Fall Vopper untersucht – und Parallelen zu zwei Fällen gefunden, die 1968 in Ravensburg und Sonthofen passiert sind.“ Zwei Frauen wurden wie Vopper erdrosselt, bevor ihnen die Kehle durchgeschnitten wurde. 1970 berichtet Der Spiegel, dass Vopper eine von zehn Frauen sein soll, die ein Serienmörder auf dem Gewissen hat. Ein US-amerikanischer GI wird verdächtigt, kann vor Gericht aber nicht überführt werden.
Veronika Böhms Erinnerungen an den 14. Mai 1969 sind heute verschwommen. „Für uns ging die Arbeit auf Station sofort weiter“, erzählt sie. Chefarzt und Klosterschwestern lassen die Schülerinnen unwissend zurück. „Wir haben nicht mehr als unbedingt nötig erfahren.“ Die Schülerinnen studieren stattdessen die Zeitungen: Dort zeigt ein Foto ihre tote Freundin am Tatort mit hochgezogenen Lippen, gefletschten Zähnen und schmerzverzerrtem Gesicht. „Ein grausiger Anblick, weil man ihr angesehen hat, dass sie Angst gehabt und gelitten hat“, sagt Böhm fassungslos.
Ein Gottesdienst zum Abschied muss damals reichen. Psychologisch betreut werden Voppers Freundinnen nicht. „So was gab es damals nicht“, sagt Böhm. „Ich kann mir eher vorstellen, dass die ein oder andere Ordensschwester den Mord als eine Art abschreckende Warnung genutzt hat. So in der Art: Das passiert eben, wenn ihr Euch alleine herumtreibt…“
Für Veronika Böhm und die anderen geht das Leben weiter: Böhm macht den Abschluss, besucht die Hebammenschule, heiratet, bekommt zwei Söhne und hat heute vier Enkel. „Lisa, du wirst nicht vergessen“, das will sie ihrer ehemaligen Mitschülerin manchmal zurufen. „Es macht mich bis heute traurig, dass Lisa um ihr Leben betrogen worden ist.“