Garmisch-Partenkirchen – Der 31. August ist für Flo Sitzmann seit 29 Jahren ein Feiertag. 1992 hat er bei einem Motorradunfall beide Beine verloren. Ein 20-Tonner überrollte den damals 15-Jährigen. Der Kumpel, der das Motorrad fuhr und einen Fehler machte, blieb unverletzt. „Nomen est omen – in meiner Welt gibt es keine Zufälle“, sagt der 45-Jährige heute. Immerhin trägt ausgerechnet er den Nachnamen Sitzmann. 50 Operationen und das künstliche Koma überlebte er. Seine Beine konnten die Ärzte aber nicht mehr retten – heute ist die Behinderung für ihn Berufung.
Zurzeit steht er jeden Morgen um sechs Uhr auf. Heute will Flo Sitzmann, Sonnenbrille, breite Schultern, muskulöse Arme, von Erlangen nach Weißenburg fahren. 71 Kilometer, 550 Höhenmeter – mit einem Hand-Fahrrad. Ein einmaliger Ausflug ist das nicht. Nur eine von zwölf Etappen. Sitzmann, der in der Nähe von Darmstadt daheim ist, ist seit über einer Woche unterwegs. In Hamburg ist er losgefahren, 563 Kilometer liegen hinter ihm, fast 300 noch vor ihm.
„Mein Ziel ist die Zugspitze in Garmisch-Partenkirchen. Auch wenn die Route wegen den Höhenmetern andersherum leichter wäre“, sagt er und lacht. „Aber es soll ja nicht zu einfach sein – ich liebe Herausforderungen.“
Die Kette wird noch etwas nachgeölt und die Bremse überprüft, dann stemmt sich Sitzmann mit den Armen vom Rollstuhl auf sein türkisfarbenes Handbike. Vor seinem Unfall war er 2,04 Meter groß. „Heute 1,50 Meter – mit Stuhl“, witzelt er. Auf dem Handbike sitzt sein Oberkörper fast am Boden auf, gefährlich niedrig für den Straßenverkehr. Daher flattert über dem Gefährt eine orange-gelbe Fahne. Fünf Freunde, einer auf einem anderen Handbike und vier auf Fahrrädern, begleiten den Hessen, der jetzt durch Bayern rollt.
Und Sitzmann hat eine Mission: „Der Unfalltag ist jedes Jahr ein andächtiger Tag. Aber nun ist er 30 Jahre her. Ich habe länger keine Beine als ich welche hatte.“ Und anlässlich des runden Geburtstages des „halben Mannes“, wie Sitzmann sich selbst nennt, will er anderen helfen. „Meine Tour heißt Miles for Hope“, erklärt er. „Ich sammle Spenden für Hoffnung für Kinder, eine Stiftung der Volksbank Darmstadt.“
Notleidenden Kindern in Südhessen und darüber hinaus ermöglicht die Stiftung Spezial-Therapien bis hin zur Anschaffung von medizinischen Geräten, Spielzeug und Vereinsfahrzeugen. Dafür hat Sitzmann monatelang die Werbetrommel gerührt und Sponsoren wie den Medizintechnikhersteller Oped, der seinen Sitz in Valley (Kreis Miesbach) hat, für die Sache gewonnen. Auch die Ippen-Stiftung spendet 5000 Euro.
900 Kilometer, 5500 Höhenmeter: Die Tour gen Süden ist kräftezehrend – selbst für Sportler wie Sitzmann, der dreifacher Deutscher Meister in der Disziplin Handbike ist und bei den Paralympics in Athen war. Morgens und abends braucht er eine kalte Dusche. Die Arme schmiert er sich mit einer Kräutercreme ein, die warm wird und die Muskeln aktiviert. Die Etappe mit der Nummer 12 sehnt der Radler schon herbei – am Montag fährt er die letzten 44 Kilometer von Weilheim nach Grainau. „Zuerst drücke ich meine Zwillinge Hannah und Georg und meine Frau Annika“, schwärmt er. „Danach will ich ausschlafen, bis wir am 31. auf der Zugspitze und später in Mittenwald feiern.“
Das Schicksal hat Sitzmann um einen Meter schrumpfen lassen. „Mental bin ich aber zum Riesen geworden und seitdem hat es das Leben gut mit mir gemeint“, sagt er. 2010 lernte er seine Frau kennen, 2015 kamen die Zwillinge zur Welt. Sitzmann schrieb zwei Bücher („Der halbe Mann“ und „Bloß keine halben Sachen“), tritt in Talkshows auf und macht sich für Inklusion stark. Der angebliche Makel wurde zur Marke. „Hätte ich einen Wunsch frei, würde ich meine Beine nicht zurückwünschen“, sagt er. Er will Vorbild sein. Ein Energiebündel und ganzer Mann, der das Leben jeden Tag feiert.
Spenden an:
IBAN: DE59 5089 0000 0000 1616 16 – Zweck: „Flo Sitzmann Miles for Hope“