München – Das Gedenken an den Terror bei den Olympischen Spielen 1972 zerfällt, genau genommen, in unzählige kleine und große Geschichten. Zum Beispiel in die von Sedi Hershkowitz. Sie ist die Witwe von Henry Hershkowitz, dem Fahnenträger des israelischen Teams beim Einzug der Nationen am Eröffnungstag im Olympiastadion. Ihr Mann ist vor fünf Monaten gestorben. Trotzdem steht sie an diesem Montagnachmittag mit ihrer Enkelin Noa im Schatten am Rande eines überhitzten Zelts auf dem Gelände des Fliegerhorstes Fürstenfeldbruck. Gleich beginnt die Gedenkfeier für das Olympia-Attentat. Vorher erzählt die Seniorin ihre Geschichte. Wie ihr Mann überlebte, weil er in Appartement 2 untergebracht war – die palästinensischen Terroristen stürmten aber die Appartements 1 und 3. Und wie ihr Mann, ein Fechter, dann vor dem Haus Connollystraße 31 einen Toten sah – das erste Opfer Mosche Weinberg. Hershkowitz weckte seine fünf Mitbewohner, „zusammen flohen sie“.
50 Jahre ist das nun her. Nun gibt es eine Gedenkfeier, und es sieht so aus, als habe die deutsche Politik endlich die richtigen Worte gefunden.
850 Gäste sind zum Fliegerhorst gekommen, der ja keinen Luftwaffen-Betrieb mehr hat, sondern teils schon privatisiert ist. So fährt man vorbei an einer stattlichen Flotte von BMW-Fahrzeugen – der Autokonzern hat hier ein Testgelände. Oben kreisen Polizeihubschrauber, auf den mit Bäumen und Büschen bewachsenen alten Flugzeug-Hangars stehen Scharfschützen – das Gedenken hat die höchste Sicherheitsstufe. Unvorstellbar, wenn etwas passieren sollte.
Vor 50 Jahren war das anders. Die Sicherheitsvorkehrungen waren lax, die Polizei überfordert. Gleich zu Beginn seiner Rede bittet Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier „als Staatsoberhaupt dieses Landes und im Namen der Bundesrepublik Deutschland um Vergebung für den mangelnden Schutz der israelischen Athleten damals“. Er erinnert daran, dass München 1972 als „Gegenprogramm zu Berlin 1936“ konzipiert war. „Pickelhaube und Stechschritt“ sollten der Vergangenheit angehören. Doch nach dem Anschlag folgten „Jahre der Hartherzigkeit“, in denen sich Deutschland der Aufklärung verweigerte und nur widerwillig erste Entschädigungssummen flossen. Nach der Einigung auf eine Zahlung von 28 Millionen Euro quasi in letzter Minute sind auch die Hinterbliebenen angereist. Ministerpräsident Markus Söder nennt die Verhandlungen der letzten Wochen „nicht unbedingt würdig“ und entschuldigt sich dafür im Namen des Freistaats. Doch vieles harrt der Aufklärung. Bundespräsident Steinmeier sagt, dass „viele Fragen“ noch offen seien, und nennt Beispiele: Warum wurden die überlebenden drei Täter nie verurteilt? Welche Verbindung hatten sie zu Neonazis und RAF? Und warum gab es nie einen Untersuchungsausschuss? Eine deutsch-israelische Historikerkommission soll das nun aufarbeiten – es sei „beschämend“, dass das noch nicht erfolgt sei, sagt auch Bundesinnenministerin Nancy Faeser.
1972 war Nancy Faeser zwei Jahre alt – Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, hingegen schon fast 40. Sie hat viele persönliche Erinnerungen an die Spiele 1972, auch gute. Ihre Tochter war Olympia-Hostess, kam am Tag des Anschlag zum Glück unversehrt nach Hause. Sie fordert sogar erneute Olympische Spiele in Deutschland – „am liebsten in München“. Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, verfolgte als 18-Jähriger die Spiele begeistert im Fernsehen „bei Kaffee und Kuchen“, wie er in seiner Rede erzählt. Und dann dieser Anschlag.
Am Ende, als letzte von neun Rednern und Rednerinnen, geht Ankie Spitzer zum Mikrofon. Die Witwe des Fechters Andre Spitzer hat die Einigung auf die Entschädigungszahlung vorangetrieben – eine Lösung, für die der israelische Staatspräsident Izchak Herzog in seiner Rede namentlich Steinmeier ausdrücklich dankt und die er als wichtigen, gerechten, moralischen Schritt bezeichnet. Ankie Spitzer geht auf die Einigung nur indirekt ein. Für sie steht an diesem Tag der Schmerz über den Verlust ihres Mannes Andre im Vordergrund. „Danke, Andre“, sagt sie auf Englisch. „Du kannst nun in Frieden ruhen und das kann ich nun auch.“