Integration in Höchstgeschwindigkeit

von Redaktion

VON KATRIN WOITSCH

München – Oleksii Volkomorov hat die kniffligste Aufgabe erwischt. Heute geht es im Unterricht um Freizeitaktivitäten. Dieses Wort allein wäre schon eine harte Nuss. Nun hat der 44-Jährige ausgerechnet noch den Begriff „lesen“ gezogen. Ein unregelmäßiges Verb. Konzentriert fängt er an zu konjugieren: „Ich lese, du liest, er oder sie liest.“ Er schafft es fehlerfrei, Lehrerin Julia Menke muss nicht verbessern. „Super“, lobt sie Oleksii. Dann streckt sie dem nächsten Schüler die Karten mit den Begriffen entgegen.

Hier, im Integrationskurs des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, wird viel gelobt, viel gegrübelt – und auch oft gelacht. Für einige der Teilnehmer sind die fünf Unterrichtsstunden pro Tag die einzige Zeit, in der sie den Krieg in ihrer Heimat kurz vergessen können. Der Alltag fühlt sich für ein paar Stunden lang wieder normal an – weil alle mit den unregelmäßigen Verben oder den deutschen Umlauten zu kämpfen haben. Weil es zwischen Vokabeln und Grammatikregeln unheimlich viel Verständnis gibt.

Seit der Krieg in der Ukraine begann, haben in Deutschland mehr als 111 000 Ukrainer einen Integrationskurs besucht – 13 000 allein in Bayern. „Wir haben die Kurskapazitäten mehr als verdoppelt“, sagte der Bamf-Präsident Hans-Eckhard Sommer gestern, als er eine Unterrichtsstunde am bfz-Standort in München besuchte. Allein in Bayern gäbe es 230 Träger – fast doppelt so viele wie 2016, betont Sommer. Weil 80 Prozent der Teilnehmer Frauen sind, hat das Bamf auch ein Kinderbetreuungsangebot organisiert. Außerdem gibt es auch Integrationskurse speziell für Jugendliche.

Allein das Bildungswerk der Bayerischen Wirtschaft (bbw) bietet in München aktuell 34 Kurse an, sechs weitere sollen diesen Monat beginnen, berichtet der Vorstandsvorsitzende Hubert Schurkus. Die Teilnehmer bekommen ihren Berechtigungsschein meist schon anderthalb Wochen, nachdem sie den Antrag gestellt haben, weitere zwei Wochen später sitzen sie im Unterricht. Auf diesen schnellen und unbürokratischen Zugang ist Bamf-Chef Sommer stolz. Die Geflüchteten, die 2015 nach Deutschland kamen, mussten teils viele Monate, manchmal sogar über ein Jahr auf einen Kurs-Zugang warten.

In dem Kurs von Julia Menke sitzen 22 Teilnehmer. Zwei Frauen sind aus Polen, alle anderen stammen aus der Ukraine. Sie alle lernen fünf Stunden täglich und fünf Tage die Woche Deutsch. Nach 600 Stunden machen sie eine Sprachprüfung, wenn sie bestehen, haben sie das B1-Zertifikat erworben. Dann folgen noch 100 Unterrichtsstunden zum Leben in Deutschland – die Einheit soll ihnen helfen, das Land und seine Regeln und Traditionen besser kennenzulernen. Angeboten werden auch Alphabetisierungskurse, erklärt Genia Rauscher von den Beruflichen Fortbildungszentren der Bayerischen Wirtschaft (bfz). Allerdings sei der Anteil der Akademiker unter den Ukrainern sehr hoch. Im Kurs sitzen Menschen, die in ihrer Heimat als Lehrer, Ingenieur oder IT-Experte gearbeitet haben.

Oleksii Volkomorov war Messeveranstalter, bevor er mit seiner Frau und seinen Kindern aus Kiew flüchtete. Er hatte Glück und Hilfe von einem Freund, deshalb konnte er das Land in den ersten Kriegstagen noch verlassen. „Ich hoffe, hier in Deutschland Arbeit zu finden“, sagt er. Er ist bereits zur Messe in München gegangen, habe ein paar Menschen angesprochen. Nun will er so schnell wie möglich Deutsch lernen. „Ich übe jeden Tag.“ Für sein deutsches Lieblingswort hat er mehrere Tage gebraucht: Tipex-Füller-Korrekturflüssigkeit. Er muss immer noch ungläubig lachen, wenn er es sagt.

Tatiana Nikulina hat ein anderes Lieblingswort. Es ist viel einfacher – und sie benutzt es mehrmals jeden Tag: Danke. Sie ist 71. In ihrer Heimatstadt Odessa hat sie 50 Jahre lang an der Uni BWL unterrichtet. Obwohl sie bereits das Rentenalter erreicht hat, könnte sie sich gut vorstellen, auch in Deutschland ihre Erfahrungen einzubringen. „Vielleicht könnten junge Menschen davon profitieren“, sagt sie. „Ich fühle mich noch voller Energie – und ich möchte der deutschen Gesellschaft gerne nützlich sein und mich dafür bedanken, dass ich hier aufgenommen wurde.“

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