Am 29. April 1920 erschien im „Völkischen Beobachter“ ein Artikel mit der Überschrift „Zum Gedächtnis der am 29. April 1919 ermordeten Geiseln“. Der Autor Karl Braßler, ein damals 23 Jahre alter Student in München, erinnerte in dem Artikel an die in der Endphase der Revolution in München von Mitgliedern der „Roten Armee“ erschossenen Gefangenen, darunter sieben Mitglieder der rechtsradikalen Thulegesellschaft und zwei Soldaten.
Karl Braßler behauptete, an der Ermordung seien letztendlich Juden schuld gewesen. Für Braßler stand fest, dass jüdische religiöse Gesetzbücher, vor allem der Talmud, die Räterevolutionäre zu den Erschießungen veranlasst haben, die sie „mit asiatischen Wollüsten“ ausführten. Der Artikel endete mit dunklen Andeutungen und Rachegelüsten: „Am 30. April“, fabulierte der Autor, „wollen wir zeigen, dass wir unsere ermordeten Blutsgenossen nicht vergessen haben“.
Bei Karl Braßler handelte es sich um einen rabiaten und vor keinem judenfeindlichen Stereotyp zurückschreckenden Radau-Antisemiten, der 1919 und 1920 fest in der ja noch kleinen und überschaubaren nationalsozialistischen Bewegung Münchens verankert war. Er gründete den Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund in München mit, dessen Wurzeln im radikalantisemitischen Reichshammerbund liegen, und war schon 1919 Mitglied in der NSDAP bzw. der Vorläuferpartei DAP mit der niedrigen Mitgliedsnummer 1292.
Für den Historiker Uwe Lohalm, der 1970 das Standardwerk über den Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund geschrieben hat, war Braßler sogar der „Motor und herausragendster Agitator der neuen völkischen Bewegung in München“.
Nach 1945 war Karl Braßler bis zu seinem Tod 1962 Kreisheimatpfleger des damals eigenständigen Landkreises Bad Aibling. Seine Beiträge zur Vor- und Frühgeschichte im Landkreis zählen nach Hunderten. Die Zeitgeschichte sparte Braßler allerdings tunlichst aus. Als Braßler 65-jährig starb, widmete ihm der damalige Bezirksheimatpfleger für Oberbayern, Sigfrid Hofmann, einen Nachruf, der durchaus auch zweideutig interpretiert werden kann: „Karl Braßler war mit der ganzen Leidenschaftlichkeit seines Wesens ein immer kampfbereiter und kompromissloser Altbayer, beseelt – ja besessen – von einem ungestümen Arbeitsdrang und Sammeleifer.“ Aber natürlich vermied Hofmann offene Kritik, wie er auch Braßlers frühe NS-Aktivitäten nicht erwähnte.
Ein Blick zurück auf das Jahr 1920: Damals stand München ganz unter dem Eindruck der erst wenige Monate zurückliegenden Revolutionsmonate und der blutigen Niederschlagung der Räterepublik. Braßler hätte vielleicht ganz gerne an den Revolutionskämpfen teilgenommen, vielleicht als Freikorps-Mitglied, wie so viele aus seiner Studenten-Generation. Er war 1916 als Weltkriegssoldat in ein Infanterie-Regiment eingezogen worden, wurde jedoch 1918 als 100-prozentig „kriegsbeschädigt“ ausgemustert. Das verhinderte vielleicht, das kann man nur vermuten, eine aktive Teilnahme an der Niederringung der Räteherrschaft in München. Wurde er deshalb umso radikaler – jetzt eben nicht auf der Straße, sondern als Propagandist?
Braßler nahm schon vor Ende des Krieges ein Studium an der Münchner Technischen Hochschule auf. 1920 war er Student für Mineralogie und Kristallographie. Einen Doktortitel hat er, obwohl das verschiedentlich zu lesen ist, nicht gehabt. Darüber hinaus engagierte er sich in völkischen Studentenverbänden, etwa im Hochschulring Deutscher Art und in der Burschenschaft „Germania“, die Juden nicht für satisfaktionsfähig hielt. Und er war eifriger Autor für den „Völkischen Beobachter“. Der erste Artikel ist schon am 22. August 1919 nachweisbar. Unter der schlichten Überschrift „Hochschulreform“ referierte Braßler eine Rede, die er in einer Studentenversammlung an der Technischen Hochschule gehalten habe. Die Rede war so von Judenhass durchzogen, dass sie – wie Braßler selbst schreibt – nach dem dritten Ordnungsruf abgebrochen wurde. Insgesamt sind für die Jahre 1919/20 ein Dutzend Artikel Braßlers im „Völkischen Beobachter“ nachweisbar.
Ein besonders bezeichnendes Beispiel für seinen Fanatismus ist ein Leitartikel mit der Überschrift „Jüdische Frontsoldaten“ am 8. April 1920. Darin behauptete Braßler, Rabbiner hätten während des Ersten Weltkriegs die Drückebergerei jüdischer Soldaten begünstigt und dafür sogar Geldzahlungen erhalten. Nachdem der Artikel in einem Nürnberger Antisemiten-Blättchen nachgedruckt wurde, reichten 20 bayerische Rabbiner Klage gegen Braßler und den Schriftleiter Franz Xaver Eder ein. Der Vorwurf der „jüdischen Drückebergerei“ war ein damals oft verbreitetes Stereotyp.
Nach einigem juristischen Hin und Her wurden Braßler und sein Schriftleiter Eder im Oktober 1920 wegen übler Nachrede zu einer Geldstrafe verurteilt. Doch Braßler wollte seine Verurteilung nicht hinnehmen. Er war offenkundig von seinen Behauptungen zutiefst überzeugt, seine Artikel waren nicht pure Propaganda, sondern in seinen Augen die Verbreitung absoluter Gewissheiten. Er legte also Einspruch gegen das Urteil ein und schickte im November eine 45 Seiten umfassende Schrift an das Gericht, in der er zu beweisen suchte, warum Rabbiner durch den Talmud dazu verpflichtet seien, die „Drückebergerei jüdischer Heeresflüchtiger“ zu unterstützen.
1920 blieb Braßler ein antisemitischer Aktivist, der Artikel schrieb und in Versammlungen mitdiskutierte. Er fiel zum Beispiel im Münchner Löwenbräukeller bei einer Veranstaltung der „Arbeitsgemeinschaft Deutschvölkischer Verbände“ mit einem Diskussionsbeitrag auf. Auf derselben Versammlung redete auch Hitler.
Anfang der 1920er-Jahre hat Braßler seinen Aktionsschwerpunkt dann nach Schwaben verlagert. 1923 erwähnt ihn der „Völkische Beobachter“ in einer Kurznotiz als mehrmaligen Redner vor der NSDAP-Ortsgruppe Augsburg über Themen wie „die Judenfrage“, der „Einfluss des Judentums auf die Sozialdemokratie“ und „Judentum und Börsenkapitalismus“. Ob Braßler tatsächlich Teilnehmer am Hitlerputsch am 8. und 9. November 1923 war, ist unklar. Eventuell kehrten Augsburger Nationalsozialisten, alarmiert vom raschen Scheitern, schon auf dem Weg nach München um – erhielten aber trotzdem als Anerkennung den sogenannten „Blutorden“. Auch Braßler hat ihn laut einer parteistatistischen Erhebung aus dem Jahr 1939 nebst einer dazu passenden „Dienstkleidung“ bekommen.
Ein Anzeichen dafür, wie tief Braßler in der völkischen Szene verankert war, ist auch sein Verhalten nach dem Scheitern des Putsches. Er blieb seinen Ansichten treu. 1924 war er Geschäftsführer des „Völkischen Blocks“ in Augsburg, einer Ersatzorganisation für die nach dem Umsturzversuch verbotene NSDAP. In einem Telegramm an Georg Neidhardt, den Vorsitzenden Richter des Volksgerichts, vor dem Hitler und seine Mitverschwörer wegen ihres Putsches angeklagt waren (und mit skandalös milden Urteilen davonkamen), drohte Braßler mit Unruhen im Falle einer Verurteilung der Angeklagten.
Insgesamt umfasste die nationalsozialistische Aktivität von Braßler nicht nur die Jahre 1919/20, sondern er war mindestens von 1919 bis 1925 ein radikaler Aktivist und Nationalsozialist. In seinen Artikeln und Schriften zeigte sich ein Hang zur Unerbittlichkeit, und das war vielleicht das, was auch dem Bezirksheimatpfleger Hofmann aufgefallen war. Braßler war überzeugt, Recht zu haben. Wer ein Amtsgericht in einer 45-seitigen Verteidigungsschrift davon überzeugen will, dass Rabbiner durch Bestimmungen im Talmud dazu angewiesen seien, die „Drückebergerei jüdischer Heerespflichtiger“ zu unterstützen, ist von der unbedingten Richtigkeit seines Tuns und seines Wissens zweifellos überzeugt.
Man könnte fragen, ob sich hier eine Haltung zeigt, die typisch für Teile seiner Generation war, der Generation der Frontsoldaten aus dem Ersten Weltkrieg, jener Generation also, die mit hohem persönlichem Einsatz alles riskiert und zum eigenen Unverständnis durch angeblichen Verrat anderer doch verloren hatte. In der Tat war ja die Weltkriegsniederlage und die anschließende Revolution etwas, was Braßler in den Nachkriegsjahren stark beschäftigte, etwas, an dem er sich abarbeitete.
1925 zog Braßler nach Berlin um, blieb aber dem völkischen Lager verbunden. Die Reichstagswahlen vom 14. September 1930, als die NSDAP mit 18,3 Prozent für viele überraschend zweitstärkste Partei wurde, markiert den Beginn einer neuen Etappe. Ab nun musste mit den Nationalsozialisten wieder gerechnet werden – und Braßler wollte dabei sein: Sein neuerlicher Eintritt in die NSDAP datiert auf den 1. Oktober 1930. Erneut wurde er aktiv – als Leiter einer Ortsgruppe „Arminius“ der NSDAP in Berlin-Tiergarten bis etwa 1934.
Zu diesem Zeitpunkt allerdings war Braßler nicht mehr primär als nationalsozialistischer Aktivist, sondern als Fachautor zu Themen der Pflanzenkunde, Schädlingsbekämpfung und Insektenforschung tätig. In einem Antrag aus dem Jahr 1936 zur Aufnahme in die Reichsschrifttumskammer nannte er unter anderem folgende Themen: „Wissenschaftliche Arbeiten aus meinem eigenen Laboratorium in Fachzeitschriften über die Gebiete: Schädlingsbekämpfung, Pflanzenkrankheiten, Bienenzucht, Seidenraupenzucht, Entomologie, Mikroskopie, wissenschaftl.(iche) Photographie.“
Wie erfolgreich Braßler damit war, lässt sich im Moment noch nicht überblicken, in der Tat aber gibt es schon seit mindestens 1925 Aufsätze des Autors in verschiedenen Fachzeitschriften, etwa dem „Anzeiger für Schädlingskunde“ oder dem „Forstarchiv“. Zum Teil wird er bis heute zitiert. Damit hat er sich offenbar finanziert. Auf seinem Briefpapier war die Berufsbezeichnung „Zoologe“ eingedruckt. 1939 zog er erneut um – nach Götting bei Bruckmühl, heute im Landkreis Rosenheim.
Die Nachkriegsgeschichte Braßlers ist durch die Forschungen zum Heimatbuch von Götting gut bekannt. Im April 1945 ist Braßler ein Zeuge, als der Ortspfarrer wegen Beteiligung an der „Freiheitsaktion Bayern“ durch die SS hingerichtet wird. Er wird nach der Befreiung durch die Amerikaner kurz zweiter Bürgermeister, muss das Amt jedoch wegen Mitgliedschaft in der NSDAP aufgeben. Er verlegt sich auf Ahnenforschung, schreibt mehr oder minder im Alleingang die Ortsgeschichte des kleinen Ortes Götting auf.
Für Nicolas Klöckner und Alois Fuchs, den Verfassern einer vorbildlichen Ortsgeschichte Göttings, ist Karl Braßler „die Schlüsselfigur“ zu dem, was bis heute über Göttings Ur- und Frühgeschichte in Umlauf ist. Sie schreiben: „Nicht nur verfasste Braßler eine ungeheure Menge an kleinen Schriften, die nahezu alle Denkmäler der näheren Umgebung wieder und wieder behandelten, sondern er platzierte zahlreiche seiner Artikel auch in der Tagespresse und lokalen Zeitschriften.“ Freilich arbeiteten Klöckner und Fuchs auch heraus, dass Braßler mehrfach gewaltig irrte, etwa indem er Scherbenfunde auf die keltische Zeit datierte, obwohl sie aus dem Mittelalter stammten. Oder indem er für eine Burganlage eine römische Präsenz behauptete, die es nie gegeben hat.
Dennoch blieb er in seinen Kreisen angesehen. „Er kämpfte schon in den 50er-Jahren für den Schutz der Mangfallauen“, würdigte ihn noch 2006 ein Heimatbuch für Bruckmühl. „Als Privatzoologe erforschte er die Käferarten des Mangfalltals, förderte die Bienenzucht und wollte, dass die Madau unter Landschaftsschutz gestellt wird. Er war ein sehr engagierter und vorausschauender Mann und wurde für seine großen Leistungen mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande ausgezeichnet.“
So ist er vor Ort bis heute – unter Ausblendung seiner Zeit als völkischer Aktivist – vielfach in Erinnerung geblieben.
Der Aufsatz basiert auf einem Vortrag, den der Autor kürzlich beim Heimat-Symposium „Begrenzt unbegrenzt“ in Miesbach gehalten hat.