Oberammergau geht zum Friseur

von Redaktion

Die Passion ist vorbei, jetzt dürfen die Rauschebärte weg: Ein Besuch im Haarsalon

VON ANDREAS MAYR

Oberammergau – Wer erleben will, wie sich die Oberammergauer zurück in gewöhnliche Menschen verwandeln, der ist bei Doris Renner richtig. Mitten im Ort führt sie ein Friseurgeschäft. 1980 beim Passion, wie die Oberammergauer sagen, hat sie zum ersten Mal die Darsteller von ihren Zotteln und Mähnen erlöst. Mittlerweile hat sie es sich zur Tradition gemacht, jeden einzelnen vor und nach seinem Termin zu fotografieren. Die Bilder, das Zeugnis der Transformationen, landen in den nächsten Tagen in ihrem Schaufenster. „Das ist immer die Überraschung, wie sie danach ausschauen“, sagt Doris Renner über ihre Kunden.

Die Ersten kommen am Sonntag, am letzten Spieltag, gleich um 15 Uhr direkt von der Bühne in den Friseursalon. 593 Tage wucherten ihre Haare. So verlangt es der Haar- und Barterlass, der an Aschermittwoch 2021 in Kraft trat. Zu den Ersten gehört Georg Horak, 69 Jahre und neun Passionen alt. Vor zwölf Jahren hat man ihn prominent auf einer Bilderserie abgelichtet. Von der Glatze bis zur Haarpracht und zurück. Die Collage hat er noch daheim, samt einem grau-blonden Haar in Überlänge. „Ich mag keine langen Haare“, sagt der Schorsch.

Gut, in den 1970ern hat er sie auch außerhalb der Passionszeit länger getragen. Aber da war er auch jünger und der Schnitt en vogue. Hinter der Bühne nennen sie ihn auch den Gummibären-Opa, weil er die Kleinen mit Süßkram versorgt. 13 Packungen, sagt er nach dem letzten Spieltag. So viele hat er heuer gebraucht. „Die Kinder strömen nicht zum Jesus, sondern zum Schorsch“, scherzt Friseurmeisterin Doris Renner.

Neben ihm sitzt Otto Huber, einst Zweiter Spielleiter. „Der war a richtiger Waldschrat“, sagt Doris Renner, als sie die Barthaare in Form bringt. „Jetzt kommt wieder ein Gesicht raus.“ Eineinhalb Jahre ohne Schere und Rasierer sind durchaus eine Herausforderung. Georg Horak hat sich Weichspüler und eine spezielle Haarbürste zugelegt, um die Pracht dreimal in der Woche zu pflegen. Im Theater, erzählt er, sieht man die unterschiedlichsten Frisuren, Zöpfe, Pferdeschwänze, bei den Rottern, die Jesus verhaften, ganz wilden Wuchs in alle Richtungen. „Da kann sich manche Frau was abschneiden“, witzelt Georg Horak. Nach 20 Minuten sitzt er im Friseur-Stuhl, halb Mensch, halb Passioner – eine Gesichtshälfte ist schon so gut wie kahl rasiert.

Zu Katharina Daisenberger sind es nur fünf Minuten zu Fuß. Ihr Laden, der Salon Kretschmar, ist einer von dreien im Dorf. Unter den Jungen hat die Friseurmeisterin einen Trend ausgemacht: Sie behalten ihre langen Passions-Haare. Für die längsten Arbeitstage im Jahr hat sie sich Verstärkung geholt. Adam Fledrich, das Alter verrät er nicht, hilft mit. Er hat schon beim Passion 1960 geschnippelt.

Aus Garmisch-Partenkirchen kommt an diesem historischen Tag zudem Rainer Herrmann, ein Experte für Bärte. Von Jesus zu Elvis sind’s bei ihm nur ein paar Haarbüschel. „So was macht Spaß“, sagt er. Einer seiner Kunden, Josef Pongratz, drückt die Gefühlslage vieler an der Kasse wie folgt aus: „Zuerst war ich ein alter Mann, jetzt bin ich ein junger Bursch.“

Am Ende bleibt bei den meisten vom Gelübdespiel eine Schaufel voll Locken. Die ganz langen Zotteln, 40 Zentimeter und mehr, werden zu Kinderperücken verarbeitet, die langen, 20 Zentimeter aufwärts, gehen an Krebspatienten für ihren Haarersatz. Der Rest landet in Ölfangnetzen für die Weltmeere. Ein Kilo Haar saugt bis zu acht Kilogramm Öl auf. „Unser Beitrag für Nachhaltigkeit“, sagt Katharina Daisenberger.

Um 0 Uhr kommen ihre letzten Kunden des Tages – sie sind jetzt keine weltberühmten Bart-und-Bibel-Stars mehr, sondern wieder ganz normale Kurzhaar-Oberammergauer. Zumindest bis zur nächsten Passion 2030.

Artikel 7 von 11