Am 5. November 1972, einem Sonntag, erschien nachmittags gegen 15 Uhr eine Gruppe von fünf jungen Roma im 100-Seelen-Dorf Niederthann (bei Pfaffenhofen). Sie wollten Brot und Eier kaufen, vielleicht auch erbetteln. Als in einem abgelegenen Bauernhof niemand öffnete, gingen sie einfach rein. Das bemerkte der Landwirt, der sein Gewehr holte und eine der nun panisch fliehenden Roma, die 18-jährige hochschwangere Anka Denisov, hinterrücks erschoss. Ein zweites Roma-Mädchen wurde schwer verletzt.
Der Historiker Hans Woller, 70, rollt den damals viel diskutierten Fall in einem Buch erstmals auf. Dabei hat er den Namen des (bereits verstorbenen) Landwirts verfremdet. Er will nicht den Täter von damals an den Pranger stellen, Es geht ihm um das Grundsätzliche – ein Gespräch über Antiziganismus.
Jagdszenen aus Niederthann spielt in den 1970er- Jahren. Wie verbreitet waren Vorurteile gegen Sinti und Roma – abfällig Zigeuner oder Landfahrer genannt – auf dem Land?
Sie waren unendlich weit verbreitet. Antiziganismus war salonfähiger als alle anderen Formen des Rassismus. Nicht nur auf dem Land, sondern auch in der Stadt, und beileibe nicht nur in Bayern. 1972 berichtete die Presse breit über die tödlichen Schüsse auf die 18-jährige Romni, anfangs durchweg vorurteilsbeladen. Da war sogar von einem Zigeunerkrieg die Rede. Die Berichte wurden erst differenzierter, als man Details zum Tathergang kannte.
Eines der Klischees ist die Blutrache – „Zigeuner nehmen Blutrache“, hieß es. Davon war sogar die Polizei infiziert, die vor Ort ermittelte.
Die Polizisten arbeiteten so, wie sie es gelernt hatten. Auch sie standen ganz im Bann der Ressentiments. Die Polizei war gleich vor Ort und verhaftete die drei unverletzten Romnja, während der Landwirt nur als Zeuge verhört und sein Hof unter Polizeischutz gestellt wurde. Erst am Tag danach wurde er auf Drängen eines Münchner Staatsanwalts verhaftet. Ausschlaggebend war die Angst vor der vermeintlichen Blutrache durch eine Roma-Gruppe, die am 5. November an der nahen Autobahnraststätte auf die Mädchen aus Niederthann warteten.
Doch diese Roma haben sich anders verhalten, als die Polizei annahm.
Die Roma waren entsetzt, als sie von den Schüssen hörten. Diese Leute, 50 bis 60 Menschen, kamen aus Serbien und Rumänien – dort, wo SS, Polizei und auch die Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg gewütet hatten. Viele hatten nahe Verwandte verloren. Der Großvater von Anka Denisov starb durch ein Mordkommando der SS. Insofern waren die Roma voller Angst. Sobald der Leichnam nach der Obduktion freigegeben worden war, fuhren sie nach Köln, wo die 18-Jährige bestattet wurde.
Der Landwirt wurde schließlich wegen Totschlag verurteilt und erhielt sieben Jahre Haft. Alles in Ordnung, möchte man meinen.
Ob das erste Urteil vertretbar war, darüber kann man streiten. Der Staatsanwalt wollte eine höhere Strafe. Doch in der zweiten Instanz erhielt der Landwirt nur noch drei Jahre Haft – das war sehr milde. Ich habe mehrere Juristen gefragt, alle waren darüber verwundert. Und noch mehr hat sie gewundert, dass der Täter nach Verbüßung der Hälfte der Strafe freikam.
Das lag nun freilich auch an der Protektion durch die lokale Politik.
Der Bürgermeister von Schweitenkirchen und auch der Landrat, beide von der CSU, kümmerten sich fürsorglich um den Landwirt und seine Familie. Der Täter war ja auch ein unbescholtener Mann und ebenfalls bei der CSU. Er kannte die Lokalpolitiker und vor allem Landwirtschaftsminister Hans Eisenmann, der dort seinen Wahlkreis hatte. Die CSU initiierte Spendenaktionen mit bunten Abenden, Tombola und Torwandschießen – mit dem Geld konnte sich der Todesschütze sehr prominente Verteidiger leisten. Auf die Idee, einen Teil davon den Kindern der Getöteten zu überlassen, kam niemand.
Sogar der Volksmusiker Roider Jackl ist für den Landwirt aufgetreten.
Der Roider Jackl war der Star einer Spendenaktion. Er hat seine Gage ebenfalls an den Todesschützen abgetreten, aber kein Wort der Empathie für die Opfer gefunden.
Eine Spende für den Todesschützen. Wie ging es weiter?
Es gab Druck auf die Justiz, um die Strafe zu verringern und die Haftzeit zu verkürzen. Hans Eisenmann schaltete Justizminister Karl Hillermeier ein, der nicht untätig blieb. So eine Protektion von ganz oben hatte nicht jeder Straftäter.
Allerdings erhielt auch die Seite der Opfer prominente Hilfe. Der Staranwalt Rolf Bossi setzte sich für sie ein. Warum?
Das lag an der Lebensgeschichte Bossis. Sein Vater, ein naturalisierter Italiener, war im Dritten Reich wegen Wehrkraftzersetzung hingerichtet worden. Bossi hatte ein Herz für kleine Leute und von Anfang an Sinti und Roma als Klienten. Er übernahm die Nebenklage und stritt für Entschädigungs- und Rentenzahlungen für die Opfer. Bossi wies auch auf die Verfolgung der Sinti und Roma in der NS-Zeit hin, er gab dem Fall also eine historische Tiefendimension. Er hat aber nichts erreicht.
Die Opfer erhielten nichts?
Nein. Das Argument war immer, dass der Ehemann der Erschossenen nicht nach deutschem Recht mit dem Opfer verheiratet war, sondern nur nach „Zigeunerart“, wie das damals hieß. Daher gab es keine Heiratsurkunde und auch keine Geburtsurkunden der Kinder – an solchen bürokratischen Spitzfindigkeiten prallte alles ab.
Was wurde aus den Angehörigen?
Die Kinder, zwölf Monate und drei Jahre alt zum Zeitpunkt der Tat, mussten ohne Mutter aufwachsen und hatten ein schweres Leben. Sie wohnen heute, wie ihr Vater, in Holland. Die schwer verletzte Romni lebte später vermutlich in Schweden. Was aus ihr wurde, weiß ich nicht.
Ist die Tat heute noch in Niederthann präsent?
Besonders gerne spricht niemand darüber. Es gibt aber viel Verständnis für die Tat, selbst heute noch, sie wird als Notwehr eingestuft, auch die Spendenaktionen sind in guter Erinnerung. Aber niemand, wirklich niemand hat mich gefragt: Was ist denn aus den Opfern geworden? Ich hoffte auf etwas Empathie oder Interesse – aber nichts.
Warum eigentlich?
Diese Sprachlosigkeit zeigt, wie groß die Distanz der Mehrheitsgesellschaft zu Sinti und Roma nach wie vor ist. Die Sinti und Roma haben seit den Schüssen von Niederthann auf der politischen Ebene viel erreicht, ihre Vertretungen sind anerkannt und werden gehört. Der Völkermord an ihnen ist allgemein bekannt. Aber: Im Alltag gibt es so gut wie keine Berührungspunkte, die Vorurteile und Vorbehalte ihnen gegenüber haben sich kaum geändert, man will mit ihnen nichts zu tun haben.
Das Gespräch führte Dirk Walter
Buchhinweis
Hans Woller: „Jagdszenen aus Niederthann. Ein Lehrstück über Rassismus“, C.H. Beck Verlag, 26 Euro