München – Das Schicksal von Lenn Jonas Milke, den wir in unserer Zeitung vor einem Jahr vorstellten, teilten wahrscheinlich unzählige Studenten. Eigentlich hatte sich der 19-Jährige für Politikwissenschaften an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) eingeschrieben. Doch Corona kam dazwischen: Lockdown. Kein Präsenzbetrieb, die Hörsäle zu, kein Studentenleben. So blieb der junge Mann in seinem Elternhaus in Essen im Ruhrgebiet. Drei Semester Politik im Online-Betrieb.
Das ist Vergangenheit. In einer Woche starten die Universitäten ins Wintersemester, trotz einer neuen Corona-Welle gibt es kaum Beschränkungen, nicht einmal eine Maskenpflicht in den Hörsälen. Ist die digitale Lehre damit vorbei?
Wohl kaum. Eine Studie, die der Lehrstuhl für Empirische Pädagogik und Pädagogische Psychologie an der LMU für die Vereinigung der bayerischen Wirtschaft (vbw) erstellt hat, empfiehlt dringend, den Digital-Betrieb zum Teil beizubehalten. „Die Ausstattung der bayerischen Hochschulen mit digitalen Medien hat während der Corona-Pandemie einen großen Schritt nach vorne gemacht“, schreiben die Forscher in der Studie, die heute im Haus der Bayerischen Wirtschaft vorgestellt wird. „Jetzt kommt es darauf an, sie zu konsolidieren und zur Erhöhung der Lehrqualität zu nutzen.“ Dabei gebe es Probleme: Nicht jeder Dozent könne Online-Formate sinnvoll in seine Lehr-Tätigkeit integrieren.
Die Studie zeigt, dass die Dozenten vor allem auf passive Formate setzen, etwa digitale Präsentationen in ihre Vorlesungen integrierten. Nur eine Minderheit setzte beispielsweise ein digitales Lernquiz ein oder initiierte eine Fachdiskussion in Online-Foren. Die Studie liefert zudem zahlreiche Details zu dem digitalen Alltag der Studierenden während des Lockdowns. Anders als den Schulen gelang es den Unis recht schnell, digital Kontakt mit den Studierenden herzustellen – die Verfügbarkeit von Videokonferenztools betrug fast 100 Prozent. Interessant auch: 85 Prozent der Studenten benutzten ihr eigenes Smartphone, um sich in Vorlesungen oder Seminare einzuklinken, 79 Prozent auch Notebooks. Nur drei Prozent mussten auf stationäre PCs der Unis zurückgreifen – die Geschichte vom armen Studenten, der sich keinen Laptop leisten kann, ist eine Mär.
Ähnlich wie in den Schulen gab es aber Probleme mit der Netzverfügbarkeit. 25 Prozent der Studenten monieren große Probleme mit schnellem Internet, gar 40 Prozent mit der Stabilität des Internetzugangs – eigentlich ein Armutszeugnis für einen Wissenschaftsstandort.
Das Fazit von Bertram Brossardt, Hauptgeschäftsführer der vbw, fällt deshalb gemischt aus: „Corona hat an unseren bayerischen Universitäten und Hochschulen für einen Digitalisierungsschub gesorgt.“ Nun gehe es um eine „systematische, qualitative Verbesserung der digitalen Hochschullehre“. Digitales Lehren und Lernen müsse als das neue Normal begriffen werden, sagt Brossardt.
Ob der Appell Früchte trägt, ist die Frage. Die Befragung zeigt, dass nur 32 Prozent der Dozenten die Möglichkeit von Online-Vorlesungen oder -Seminaren weiter nutzen will. Nur 13 Prozent finden zum Beispiel Zoom-Sprechstunden sinnvoll, acht Prozent die Möglichkeit, digital an internationalen Konferenzen teilzunehmen.
Ein Problem, so ergab die (konsequenterweise online durchgeführte) Befragung von 6000 bayerischen Studierenden, 1270 Dozenten und 43 Studiendekanen, ist mittlerweile die Überflutung mit Digital-Angeboten: digitale Fachpublikationen, Aufzeichnungen von Professoren-Vorträgen, Wissenschaftspodcasts und Fachdiskurse im Netz – Studenten müssten aus einer schier unendlichen Vielfalt das Richtige für sich herausfiltern. Das stelle, so stellen die Wissenschaftler in der Studie fest, „steigende Anforderungen an die Selbststeuerungsfähigkeit“ der Studenten. Die Unis und Hochschulen müssten die Studierenden lenken, heißt es in den Handlungsempfehlungen.
Es droht die
digitale
Reizüberflutung