Neues Leben für alte Werdenfelser Märchen

von Redaktion

VON BEATRICE OSSBERGER

Garmisch-Partenkirchen – Marietta Setzpfand ist aufgewachsen mit dem Zwerg aus der Klamm und der weißen Fee, dem Wettersteiner Mandl und dem Schachengeist. Ihre Mutter Gertrud Maria Dietz hatte über die Sagengestalten im Werdenfelser Land ein kleines Buch geschrieben und daraus der Tochter immer wieder vorgelesen. „Die Geschichte mit der Fee hat mir immer am besten gefallen“, sagt Marietta Setzpfand und lacht. „Das Mandl dagegen, das war mir viel zu grantig.“

Gertrud Maria Dietz aus Garmisch-Partenkirchen hat das „Werdenfelser Märchenbuch“ 1949 verfasst, die fein humoristischen Zeichnungen lieferte der Murnauer Fotograf und Illustrator Werner Kraus. Es ist die Geschichte der Geschwister Lieserl und Sepp, die sich eines Sonntags aufmachen, um all die wunderbaren Gestalten aufzuspüren, von denen ihnen die Großmutter immer erzählt hat. Tatsächlich treffen die Kinder in der Höllentalklamm nicht nur den Zwerg und dürfen in seine Silberschmiede schauen, sie begegnen auch der Fee, dem Mandl und dem Ritter der Burg Werdenfels, der keine Ruhe findet, weil er einst in einem Hexengericht vier Frauen zu Unrecht hinrichten ließ. Gegenüber den Geschwistern erweist er sich aber als weit weniger furchtbar als gedacht.

Es ist ein Buch, das nicht nur zu Hause bei der Autorin regelmäßig gelesen wurde. Bei vielen Familien der Region stand der schmale Band im Regal, ganze Generationen sind damit groß geworden. 1981 gab es eine zweite Auflage des Buches, doch auch diese war rasch vergriffen. In den vergangenen Jahren konnte man nur mit viel Glück im Antiquariat fündig werden, erzählt Marietta Setzpfand. Umso mehr freut es nun die 73-Jährige, dass es von dem „Werdenfelser Märchenbuch“ im Ostfalia-Verlag jetzt eine Neuausgabe gibt. „Ich bin glücklich darüber, dass das Buch jetzt wieder seinen Weg in die Familien findet“, sagt sie. Die Ausgabe wurde um einige Kapitel erweitert. Neben einem Glossar und den Biografien der Autorin und des Zeichners geht es auch um die historischen Hintergründe der Erstauflage.

Gertrud Maria Dietz wollte mit ihrem Buch den Kindern der Vertriebenen die neue Heimat Werdenfels näherbringen. Allein in Bayern kamen ab 1946 knapp zwei Millionen Menschen an, die gezwungen worden waren, ihre Heimat in Böhmen, Mähren und der Slowakei zu verlassen. Die Alliierten verteilten die Menschen vor allem in die ländlichen, weniger zerstörten Regionen. Nach Garmisch-Partenkirchen kamen die Flüchtlinge per Eisenbahn und wurden dort in mehreren Notbaracken und per Zwangseinweisung in den Häusern und Höfen der Bevölkerung untergebracht. „Meiner Mutter ging das Schicksal der heimatvertriebenen Kinder sehr zu Herzen“, sagt Marietta Setzpfand. Gertrud Maria Dietz wusste genau, wie sich der Verlust von Heimat anfühlt, teilte sie doch ein ähnliches Schicksal. Als Jugendliche hatte sie mit ihrer Familie nach der Machtergreifung italienischer Faschisten ihre Heimat Südtirol verlassen müssen.

Für das Märchenbuch habe die Mutter viel recherchiert, erzählt Marietta Setzpfand. „Sie ist zu den alten Leuten gegangen und hat sich von ihnen Sagen und Legenden erzählen lassen.“ Getippt hat die Mutter das Manuskript dann, wie all ihre Reportagen und Geschichten, auf einer alten Schreibmaschine. Die Tochter lächelt: „Dieses ständige Klappern habe ich heute noch im Ohr.“ Gertrud Maria Dietz starb 2003.

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