München – Mit Blick auf die Gesellschaft und das Gesundheitssystem hat Corona alle Erkrankungen in den Schatten gestellt – auch die Influenza. Zwei Winter lang ist die echte Virusgrippe praktisch ausgefallen, wegen der scharfen Hygienemaßnahmen wie Maskenpflicht und Kontaktbeschränkungen gab es keine größeren Ausbrüche. Nun allerdings, nach dem gefühlten Ende der Corona-Pandemie, rückt die Influenza wieder in den Brennpunkt. Dazu kommen heftige grippale Infekte, Keuchhusten und vor allem das RS-Virus, das derzeit in vielen bayerischen Kinderkliniken bereits für dramatische Versorgungsengpässe sorgt. Zusammengenommen könnten diese Atemwegserkrankungen in diesem Winter sogar mehr Schaden anrichten als die eher milden Covid-Verläufe.
Die Viren breiten sich derzeit auch deshalb so rasant aus, weil der sogenannte Herdenschutz nachgelassen hat – das bedeutet: „Die Bevölkerung ist in den Corona-Jahren kaum mit den Erregern in Kontakt gekommen, das Immunsystem der meisten Menschen ist nicht mehr so gut auf sie vorbereitet wie vor der Pandemie“, erklärt der Infektiologe Privatdozent Dr. Christoph Spinner vom Uniklinikum rechts der Isar. Er sieht allerdings keinen Grund, jetzt in Panik zu verfallen: „Wir leben nun mal nicht unter sterilen Bedingungen und müssen als Gesellschaft lernen, mit Atemwegserkrankungen umzugehen. In erster Linie kommt es darauf an, ältere und chronisch kranke Menschen besonders gut zu schützen. Sie sollten sich unbedingt nicht nur gegen Corona, sondern auch gegen Grippe impfen lassen.“
Die Gefahr einer Influenza-Ansteckung steigt derzeit rasant an. Das belegen die Zahlen des Robert-Koch-Instituts. Ende November wurden der Behörde binnen einer Woche über 13 000 neue Fälle gemeldet, die Zahl der Infektionen kletterte auf über 31 000. Das waren fast 50 Mal so viele wie zum selben Zeitpunkt 2019, im letzten Influenza-Winter vor Corona.
„Heuer ist die Situation wirklich außergewöhnlich“, analysiert der Münchner Allgemein-Mediziner und Grippe-Spezialist Dr. Markus Frühwein. „Ich kann mich nicht daran erinnern, dass die erste heftige Grippewelle schon mal so früh so heftig ausgebrochen ist. Normalerweise erreicht die Influenza-Saison erst im Februar, März ihren Höhepunkt. Wenn die Infektionskurve weiter so rasant ansteigt, könnte unser Gesundheitssystem nach Weihnachten ernste Probleme bekommen.“
Deshalb wirbt auch Frühwein massiv für die Impfung. „Jeder, der älter als 60 oder chronisch krank ist, sollte sich impfen lassen.“ Diese Patienten bekommen in der Regel ein hochdosiertes Vakzin, es ist vier Mal so stark wie der Impfstoff für die Jüngeren. Die Nebenwirkungen – etwa Hautrötungen an der Einstichstelle, Armschmerzen oder Schüttelfrost – sind in den allermeisten Fällen überschaubar. Ganz anders die Folgen einer ungeschützten Influenza-Infektion: „Das Virus trifft den ganzen Körper, es zeigen sich überall Entzündungsreaktionen“, berichtet Frühwein. „Eine Influenza fängt meist schlagartig an, den Patienten geht es ganz schnell wirklich dreckig, sie haben starke Kopf- und Gliederschmerzen, bekommen hohes Fieber.“
Die Impfung sei zudem eine gute Investition, um Spätfolgen der Grippe zu vermeiden, betont Frühwein. Lungenspezialisten und Altersmediziner teilen diese Einschätzung. „Bei Ungeimpften beobachten wir insbesondere im ersten Monat nach der Influenza-Infektion häufiger Herzinfarkte oder Schlaganfälle. Als Spätfolge kann nach mehr als zehn Jahren ein Morbus Parkinson auftreten“, warnt Dr. Andreas Leischker, Impf-Experte von der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie. Auch Patienten mit chronisch obstruktiver Lungenentzündung (COPD) können vom Pieks gegen Influenza profitieren. „Sie erkranken deutlich seltener an Demenz, wenn sie sich jährlich gegen Influenza impfen lassen“, berichten Leischker und seine Kollegin Prof. Hortense Slevogt, Immunologin und Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie.
Doch auch für Jüngere kann sich die Grippe-Impfung lohnen. „Ich lasse auch meine kleinen Kinder impfen, weil wir unsere ganze Familie vor der Influenza schützen wollen“, sagt der Münchner Mediziner Frühwein. „Es kann mehrere Wochen dauern, bis man nach einer Influenza seine alte Leistungsfähigkeit wieder erreicht hat. Das wollen wir nicht riskieren.“ Dazu kommt: In der Akutphase verläuft die Grippe in der Regel wesentlich heftiger als die meisten Corona-Infektionen.
Bislang lassen sich nur 47 Prozent aller Bundesbürger gegen Grippe impfen. Ein wirklich wirksames Medikament gegen das Virus gibt es nicht. Zur Verfügung steht zwar Oseltamivir (Handelsname Tamiflu). „Aber es kann die Krankheitsdauer allenfalls etwas verkürzen, wenn es in den ersten Stunden und Tagen rasch nach der Infektion eingenommen wird“, sagt Frühwein. Ansonsten gilt: „Fieber senken, mit Paracetamol oder Hausmitteln wie Wadenwickeln. Und im Bett bleiben, bis das Schlimmste überstanden ist.“