München – Als das letzte Möbelstück in den Umzugslaster verladen war, sie ins Auto ihrer Eltern stieg, in dem schon ihre beiden kleinen Kinder warteten, schossen ihr die Tränen in die Augen. „Ich habe so gerne hier gewohnt“, sagt Clarissa Huber, die ihren wahren Namen nicht in der Zeitung lesen möchte. Aus Scham. Deshalb ist ihr Anonymität wichtig. Es ist ihr peinlich, was passiert ist. Der Vermieter hat sie aus dem schmucken Reihenhaus in einem Dorf an der Peripherie einer schwäbischen Kleinstadt werfen lassen, in dem sie mit den zwei Kindern mit ihrem Mann lebte. Als der die Familie verließ und jeden Kontakt abbrach, weder Unterhalt noch Miete bezahlte, dauerte es nur wenige Monate, bis es so kam, wie es kommen musste. Auf mehrere Mahnungen, die Mietschulden zu begleichen, folgten Anwaltsschreiben, der Besuch des Gerichtsvollziehers und schließlich die vom Gericht angeordnete Zwangsräumung.
Ein Schicksal, das Clarissa Huber mit mehreren Tausend Menschen in Bayern teilt. Sie ist kein Einzelfall. Im Freistaat hat es im vergangenen Jahr deutlich mehr Zwangsräumungen gegeben. Das geht aus einer Statistik hervor, die das Justizministerium auf eine Anfrage der Linken im Bundestag herausgab. Für 2021 sind das in nackten Zahlen 3432 Zwangsräumungen, ein Zuwachs von knapp 20 Prozent. Damit liegt Bayern bundesweit auf Platz zwei hinter Nordrhein-Westfalen. Die Entwicklung bewegt sich damit gegen den rückläufigen Bundestrend.
Clarissa Huber ist allerdings nicht typisch für jene Menschen, die von Zwangsräumungen betroffen sind. Besonders häufig ist das bei Singles der Fall, Alleinerziehende mit Kindern widerfährt dieses Unglück, das häufig als persönliche Krise empfunden wird, nur in 2,7 Prozent der Fälle. Zu diesem Ergebnis kommt der neueste Statistikbericht der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe. Miet- und/oder Energieschulden waren in den vergangenen Jahren der häufigste Auslöser für den Verlust der Wohnung. Sagt zumindest die Statistik. Und die Befürchtung ist groß, dass die aktuellen Krisen – Ukraine-Krieg, Inflation und Preisexplosionen bei Gas, Strom und Heizöl – die Situation noch verschärfen.
Im südlichen Bayern gibt es allerdings Inseln der Seligen: Regionen, in denen Zwangsräumungen nicht an der Tagesordnung, sondern eher fast die Ausnahme sind. Eine davon ist München, wo die Wohnungsnot eigentlich besonders groß ist. „Die aktuellen Probleme haben bei uns bisher nicht zu steigenden Fallzahlen im Bereich der drohenden Wohnungslosigkeit geführt“, teilt Edith Petry, stellvertretende Pressesprecherin im Sozialreferat, mit. Grundsätzlich sei ein Trend zur Zunahme von Zwangsräumungen in München nicht zu beobachten, sagt sie. Die Zahl der Räumungen sei von 427 (2019) auf 338 (2021) gesunken. Ähnliche Erfahrungen hat Lilo Lüling gemacht. Die Sozialpädagogin, die bei der Diakonie Rosenheim die Wohnungsnotfallhilfe leitet, sieht beim Blick in die Statistik der zurückliegenden Jahre nur Pfeile, die nach unten weisen. Ihre Erklärung: „Wenn Menschen mit Problemen frühzeitig zu uns kommen, können wir viel besser helfen.“ Ganz ähnlich arbeitet das Münchner Sozialreferat. „Es ist wichtig, dass man sich rechtzeitig meldet und und nicht wartet, bis der Vermieter kündigt oder man eine Räumungsklage vom Amtsgericht erhält“, erklärt Petry.
Diesen Weg zu gehen, hat Huber verpasst. Sie und ihre Kinder haben bei ihren Eltern übergangsweise Unterschlupf erhalten. Eine eigene Wohnung zu finden dürfte schwierig werden. Lüling sagt: „Der Markt ist leer gefegt.“
Experten raten: Frühzeitig um Hilfe bitten