Wackersberg – Ursula Hueber hat viele Erinnerungen an Weihnachten. Schöne, aber auch traurige. Ihr Großvater ist an Heiligabend gestorben. Ihre Mutter hatte ihn damals aus einem Gefühl heraus nicht allein lassen wollen, während die anderen zur Mette gingen. Der alte Mann hörte das Festgeläut der Nikolauskirche in Wackersberg im Kreis Bad Tölz-Wolfratshausen und sagte: „So schön hab ich die Glocken noch nie läuten gehört“ – dann tat er seinen letzten Atemzug.
Ursula Hueber feiert in diesem Jahr ihr 100. Weihnachtsfest. Der Zauber der Weihnachtszeit, so erzählt die 99-Jährige, prägte ihre Kindheit: verschlossene Wohnzimmertüren, Krippe, Plätzchengeruch, erwartungsvolle Kinder und Bescherung im Familienkreis. Vieles war so wie heute. Und doch war manches anders. Adventskalender zum Beispiel gehörten nicht zum ländlichen Weihnachtsbrauchtum. Dafür der Nikolaus, den die alte Dame in guter Erinnerung hat. Ein Krampus war selten dabei. Das wollte die Mutter nicht. Die Entzauberung des Nikolaus-Mythos geschah, als der kleinen Ursula die hohen Schuhe des heiligen Manns auffielen. Der Mann war eine Frau. „Und so modische Schuhe hatte nur die Nachbarin gehabt, die von auswärts ins Dorf eingeheiratet hatte“, erinnert sie sich.
Heiligabend war früher ganz und gar dem strengen Diktat des bäuerlichen Tagesablaufs unterworfen, erzählt Hueber. „Erst musste das Vieh im Stall versorgt werden, dann waren die Menschen dran.“ Bis Mittag wurde gearbeitet und nachmittags schmückte die Mutter den Christbaum. Etwa mit Kugeln, Kerzen, Engelshaar oder Lametta sowie Lebkuchen, in die die Mutter Aufhänger eingebacken hatte. Und natürlich Schneeguatln, sagt Huber. In eine Schüssel voll mit Schnee wurden Blechförmchen gelegt, die dann mit einer Kakao-Masse gefüllt wurden. Die Guatln durften natürlich nur mit Erlaubnis vom Baum genommen werden. Ursula Hueber erinnert sich, dass es einmal viel Ärger gab, als der Christbaum über Nacht seine Süßwaren „verloren“ hatte. Keines der vier Kinder wollte es gewesen sein. Wie sich dann herausstellte, war die Hauskatze der Dieb.
Allein über die Christbäume damals könnte Hueber viel erzählen. „O mei“, sagt sie, „das warn vielleicht oft so Halleluja-Stangerl.“ Unterhalb der Gassenhofer-Alm holte der Vater mit den Kindern beim Brennholzmachen den Baum. Ursula Hueber erinnert sich noch an den Blick ihres Vaters, als sie damals auf eine schöne kleine Tanne deutete und sagte: „Das ist der Richtige.“ Kam nicht infrage für ihren Vater. „Dann haben wir einen weniger“, sagte er. Denn der Wald war die „Sparkasse“ des Bauern. Dann lieber ein Halleluja-Stangerl, das man eben mit der Schokoladenseite nach vorne drehen musste. Abgeräumt wurde der Baum übrigens nicht zu Lichtmess, sondern dann, wenn er zu nadeln begann.
Nach der Stallarbeit rüstete man sich für Heiligabend. Für die Kinder gab es Zopf, der zur Feier des Tages mit Zuckerguss bestrichen war. Dann folgte die Bescherung. Die Mutter hatte für jedes der vier Kinder einen Teller mit Plätzchen gebacken. Als Geschenke gab es Anziehsachen und Kleinigkeiten, erinnert sich Ursula Hueber und deutet auf eine Puppe in ihrem Wohnzimmer. Für dieses damals ziemlich noble Spielzeug, an das ihre Mutter irgendwie gekommen war, hatte sie damals eine neue Perücke gefertigt – und zwar aus ihrem eigenen Haar. Die Puppe sei aber immer nur „zum O’schaugn“ gewesen, sagt Hueber. „Ich habe fragen müssen, ob ich sie anlangen darf.“
Für die Eltern fielen die Geschenke etwas spärlicher aus. Am Platz des Vaters lag einmal ein Paar Socken, das er schon im vergangenen Jahr bekommen hatte. „Das kenn ich doch“, habe er gutmütig gesagt und gelacht, erinnert sich die 99-Jährige. An ein Präsent des Vaters an die ganze Familie erinnert sie sich noch sehr genau. Unter der Krippe hatte er ein Grammola versteckt – einen mechanischen Vorläufer des Plattenspielers. In dem Moment, als die Familie Christbaum und Krippe bewunderte, startete das Lied „Stille Nacht“. „Mei war des schee“, sagt Hueber. Nicht einmal die Mutter habe davon gewusst.
Die Mette begann in Wackersberg um 24 Uhr. Die Familie musste früher dort sein, denn der Vater war Mesner. Und die Kinder waren eingespannt, um die fünf Glocken zu läuten. Ursula war die Kleinste und bediente die kleinste Glocke. Nach der Mette musste die Kirche noch aufgeräumt werden, danach gab es ein kleines Mahl mit Suppe, Blut- und Leberwürsten. Mit dem späten Beginn der Mette kann Ursula Hueber auch heute nicht viel anfangen. Die Kirche sei eisig kalt gewesen. Die Gottesdienstteilnehmer hätten alle gewusst, dass sie um 5 Uhr wieder rausmüssen, um das Vieh zu versorgen. Doch am ersten Weihnachtsfeiertag gab es auch ein Festessen, für das der Vater die eigene Sau geschlachtet hatte. Zu dem Festessen waren auch die Nachbarn, denen es nicht so gut ging, eingeladen. Der seltene Festschmaus führte übrigens nicht selten zu einem verdorbenen Magen, erzählt sie.