1923 – das Katastrophenjahr

von Redaktion

Hitlerputsch, Hyperinflation, Besatzung: Vor 100 Jahren meisterte die junge Weimarer Republik eine tiefe Krise

VON DIRK WALTER

München – Energie, Klima, Krieg – Krise, wohin man auch blickt. 2022 war zweifellos ein Jahr der schlechten Nachrichten. Und dennoch: Wer von einem Katastrophenjahr spricht, der hat sich noch nicht mit 1923 befasst. Dem Jahr, in dem ein späterer Diktator putschte. In dem Franzosen und Belgier einen Teil Deutschlands besetzten. In dem Hunderte in bürgerkriegsähnlichen Unruhen starben. Und über all dem die Inflation – über die zehn Prozent von heute hätten die Zeitgenossen von 1923 gelacht. Die „Münchener Zeitung“, Vorläufer des „Münchner Merkur“, kostete Anfang Januar 1923 noch 40 Reichsmark. Ende 1923 wurde die Zeitung für 150 Milliarden verkauft. „Die Preise sind allzu wahnsinnig“, notierte der Romanistik-Professor Victor Klemperer, ein kluger Tagebuch-Schreiber, schon am 2. Februar 1923. „Margarine 4000 Mark.“ Wenige Monate später, am 24. August 1923, zahlte er für ein Pfund Fleisch 1,7 Millionen.

1923 – da fällt historisch interessierten Münchnern wahrscheinlich der Hitlerputsch ein: Am Abend des 8. November verkündete der spätere Diktator im Bürgerbräukeller – dort, wo heute der Gasteig steht – seine „nationale Revolution“. Aber wer im Ruhrgebiet wohnt, der ist vielleicht mit der Erinnerung an andere Ereignisse groß geworden. Denn die Ruhrbesetzung war 1923 das alles andere überragende nationale Thema. Am 11. Januar 1923 marschierten eine belgische und zwei französische Kolonnen ins Ruhrgebiet ein. Innerhalb von fünf Tagen hatten zwischen 70 000 und 100 000 Soldaten das industrielle Herz Deutschlands besetzt. Demonstrativ logierte der Befehlshaber der Besatzungstruppen, General Jean-Marie Degoutte, in der Essener 269-Zimmer-Villa des Industriellen Krupp.

Der Auslöser war ein seit 1922 schwelender Streit um Reparationen, also die Sühneleistungen Deutschlands an die im Ersten Weltkrieg siegreichen Westmächte in Form von Gold, Kohle und Stahl. Deutschland geriet mit den Reparationen in Verzug. Der französische Ministerpräsident Raymond Poincaré war indes überzeugt, dass die deutschen Anträge, einen Zahlungsaufschub zu erreichen, nur Taktik waren, um letztlich um die Zahlung ganz herumzukommen.

Die Ruhrbesetzung hatte vor allem eines zur Folge: eine ungeahnte nationale Aufwallung in Deutschland. Bis weit in das linke und linksliberale Spektrum hinein herrschte einhellige Empörung über die Besatzung. „Der Rubikon ist überschritten“, urteilte die bekannte liberale „Vossische Zeitung“.

In der Flut von Berichten über angebliche oder tatsächliche Gräueltaten der Franzosen war Wahres und Aufgebauschtes für den normalen Zeitungsleser damals wahrscheinlich nur schwer zu unterscheiden. Der irische Historiker Mark Jones ist dem anhand von Akten nachgegangen – der Erschießung streikender Arbeiter, zufälligen Todesfällen auf der Straße, Berichten über die Vergewaltigung deutscher Frauen. Viele Fälle von exzessiver Gewalt habe es tatsächlich gegeben, schreibt Jones. Schon am 15. Januar, vier Tage nach dem Einmarsch, erschossen Franzosen einen Jugendlichen, offenbar ein Angehöriger der nationalistischen Bismarck-Jugend, die die Eindringlinge mit dem Lied „Siegreich wollen wir Frankreich schlagen“ provoziert hatte. Vollends aufgepeitscht wurde die nationale Rechte am 26. Mai 1923 durch die Hinrichtung von Albert Leo Schlageter, 28-jähriger Anführer einer Gruppe, die Sprengstoffanschläge auf Eisenbahngleise verübt hatte, um den Abtransport von Kohle zu unterbinden. Schlageter wurde zum Märtyrer, der Kult war auch unter den Nationalsozialisten ungeheuer populär.

Höhepunkt der Gewaltorgie war indes der „Essener Blutsamstag“, bei dem französische Soldaten in den Krupp-Werken 13 Personen erschossen – „Blut deutscher Arbeiter von den Franzosen in Essen vergossen“, titelte empört die „Münchener Zeitung“.

Auf die Besetzung des Ruhrgebiets antwortete die deutsche Reichsregierung unter dem liberalen Reichskanzler Wilhelm Cuno mit einer Kampagne zum „passiven Widerstand“: Zechenbesitzer wurden angewiesen, Kohlelieferungen an Frankreich und Belgien auszusetzen; Beamten wurde untersagt, den Anordnungen der Besatzer Folge zu leisten. Zwei Millionen Arbeiter streikten. Die Reichsregierung versicherte ihnen allen die Bezahlung ihrer vollen Bezüge. Die Finanzierung des passiven Widerstands trieb aber die Notenpresse weiter an. Die Inflation schaltete vom Trab in den Galopp.

Man kann die nun folgenden Ereignisse auch eine Reaktion auf die Ruhrbesatzung interpretieren – was nicht ganz falsch ist, aber doch den Kern der Dinge verfehlt, schließlich waren Separatisten wie auch die Nationalsozialisten schon vorher präsent. Die Ruhr-Besetzung verschaffte beiden Bewegungen aber ungeahnten Zulauf.

Die Separatisten sind eine heute kaum noch bekannte Bewegung. Aktivisten wie Josef Friedrich Matthes und Hans Adam Dorten propagierten eine unabhängige Rheinische Republik, deren Umrisse variierten, die aber jedenfalls frei von Deutschland und vor allem von Preußen sein sollte.

Unter der Überschrift „Der Pfalzputsch“ berichtete die „Münchener Zeitung“ im November 1923 nicht gerade neutral, dass die separatistische Bewegung auch in die Pfalz ausstrahlte: „Nachdem sie durch beigezogenes Gesindel aus dem Rheinland und unter Mitwirkung der Franzosen sich in den Besitz des Regierungsgebäudes zu Speyer gesetzt hatten, erließen sie die ,Proklamation‘ einer autonomen Republik der Pfalz.“ Das wurde dort wie auch im Rheinland niedergeschlagen. Der Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer, auf den die Separatisten gehofft hatten, schlug sich nicht auf ihre Seite. Ohnehin verhinderte ein Veto Englands jede Veränderung des politischen Status des Rheinlands.

Schwieriger war die Situation in Bayern. Am 26. September verkündete die Reichsregierung dem Abbruch des passiven Widerstands. Die „Münchener Zeitung“, jetzt ganz im ultrakonservativen Fahrwasser, titelte: „Die Kapitulation an der Ruhr“. Als Reaktion gab Ministerpräsident Eugen von Knilling von der katholischen Bayerischen Volkspartei unter nationalistischem Druck exekutive Funktionen an einen Generalstaatskommissar ab: Gustav von Kahr. Die „Münchener Zeitung“ sprach ganz offen von einer „Diktatur von Kahrs“, meinte das aber durchaus positiv. Kahr, früher Regierungspräsident von Oberbayern und 1920/21 auch schon einmal Ministerpräsident, war Monarchist und Antisemit. Er machte als Erstes mit der Ausweisung von geschätzt 400 osteuropäischen Juden wegen angeblichen Wuchers auf sich aufmerksam.

Vorübergehend entstand in München nun der Eindruck, putschbereite bayerische Reichswehr-Einheiten unter Otto von Lossow seien bereit, an der Seite der politischen Rechten auf Berlin zu marschieren, um die Reichsregierung (Reichskanzler nun: Gustav Stresemann) zu stürzen – analog zum Zug Mussolinis auf Rom ein Jahr zuvor.

Doch Hitlers erster Versuch einer „Machtergreifung“ scheiterte schon am Odeonsplatz, wo Landespolizisten 15 Putschisten erschossen. Bei einem der Getöteten, Theodor von der Pfordten, fand sich in der Brusttasche der Entwurf einer diktatorischen Verfassung. Auch vier Polizisten (an die heute mit einer Tafel am Odeonsplatz erinnert wird) und ein unbeteiligter Passant starben.

Kleinreden oder lächerlich machen als „Bierhallen-Putsch“ (eine häufig in der amerikanischen Literatur zu lesende Verballhornung) sollte man den Putschversuch nicht. Für einen Tag herrschte in München politische Paralyse. Die Gunst der Stunde nutzten etwa Trupps des „Bund Oberland“, eines früheren Freikorps. Sie verhafteten politische Gegner und nahmen im Lehel und in Bogenhausen etwa 20 jüdische Bürger unter Gewaltandrohung mit, die sie in den Bürgerbräukeller führten. Diese kamen zwar bald frei, durchlitten aber bange Stunden. Hitler entwich nach Uffing am Staffelsee, wo er zwei Tage später festgenommen wurde.

Auch eine andere Sorge war nun Vergangenheit: die Inflation. Noch am 16. November hatte Victor Klemperer in sein Tagebuch notiert: „Der Dollar steigt und steigt, jetzt ist er bei 2,5 Billionen.“ Beim Kaufhaus Oberpollinger in München kostete ein Stück gelbe Kernseife, 200 Gramm, nun 7,5 Milliarden. Doch dann wurde auf die Rentenmark umgestellt – plötzlich gab es wieder Scheine zu 1 bis 1000 Mark.

1923 – das war gewiss kein schönes Jahr. Aber die junge Weimarer Demokratie hat erstaunlicherweise alle Krisen überstanden – vielleicht ein Lichtblick auch für heutige Pessimisten.

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