München – Noch immer beißt Eva Warth in knackige Äpfel und Nürnberger Stadtwürstl – trotz ihrer 102 Jahre. Augen und Ohren lassen nach, aber die Zähne nicht. „Ich habe nur ein paar Plomben“, sagt sie, lacht und deutet auf ihren Mund. „Alles Marke Eigenbau.“
Humor, aber auch ihr Aussehen ist Eva Warth wichtig. Sie trägt einen rosa Rollkragen-Pulli, hat ihr weißes Haar geföhnt und zurückgelegt. Bis 99 hat sie noch Gymnastik vor dem Fernseher gemacht und im Luitpoldpark, der in München direkt gegenüber ihrer Wohnung liegt, etwas abseits an freien Fitness-Kursen teilgenommen. „Könnte ich heute noch mal einen Beruf lernen, würde ich in die Krankengymnastik gehen“, sagt Eva Warth. Den Fahrstuhl, der hinauf zur Wohnung in den dritten Stock fährt, würde sie am liebsten weiterhin ignorieren. Ihre Kinder wünschen sich aber, dass sie Lift fährt.
Geboren ist Warth 1920. Als Pfarrerstochter wächst sie in Franken auf, besucht eine höhere Mädchenschule und die Haushaltsschule. Die schönsten Erinnerungen ihres Lebens verortet sie heute in jener Zeit: „Mit bloßen Händen haben wir Frösche gefangen, eine glitschige Angelegenheit“, erzählt sie. Mit Geschwistern und Freunden hat sie im Dorfweiher gebadet, auf dem Ruderboot geturnt. Wie es dort im Frühling duftete, weiß Eva Warth heute, 90 Jahre später, noch ganz genau. „Wasser war immer mein Element.“
Ihre erste Stelle tritt die junge Frau in einem Fliegerhorst an und heiratet mit 20. Ihr Mann fällt als Soldat, genau wie ihr Bruder. Nach dem Krieg heiratet die junge Witwe wieder. Otto Warth bleibt bis zu seinem Tod 2014 an ihrer Seite. In den 1950er-Jahren geht das Paar nach München – und wieder zieht sie Wasser magisch an. Im Wohnwagen kampiert das Paar mit den Kindern Hans-Joachim und Regina an den Osterseen und am Riegsee und bald auch am Meer in Italien und Südfrankreich. „Den Wagen hast du grün angestrichen und große Sonnenblumen auf die Türen gemalt“, erinnert sich Hans-Joachim Warth. Der 75-Jährige, ihr „Hajo“, besucht seine Mutter jeden zweiten Tag.
Seit 40 Jahren wohnt Eva Warth in ihrer Wohnung. Noch immer selbstständig zu sein, ist ihr wichtig. „Zweimal am Tag kommt der Pflegedienst vorbei. Ich bin zufrieden und werde gut umsorgt“, sagt sie. Auch ihre Nachbarn achten auf sie. Die letzte Woche im Monat treffen sie sie daheim aber nie an. Die verbringt sie am Waginger See bei Tochter Regina. Spazieren gehen, sich die Sonne ins Gesicht scheinen lassen, das Wasser in der Nähe – das liebt Eva Warth.
„Ich bin für jedes Jahr dankbar, habe aber auch gute Gene“, sagt sie und lacht. Ihre Mutter wurde 96 Jahre alt, genau wie ihre große Schwester Lisbeth. Sechs Jahre trennten die beiden und irgendwann die halbe Welt. Lisbeth wanderte nach Australien aus. „Wir haben Briefe geschrieben und wussten alles voneinander“, sagt Warth. Bis Lisbeth vor zwölf Jahren starb.
102 Jahre lang hat Warth schöne und traurige Erinnerungen sammeln können. Die meisten ihrer Liebsten lachen sie heute nur noch von Fotos an. Aber in der Vergangenheit will sie nicht leben. Sie will unter Menschen sein. Mit ihren Kindern und ihrem Enkel sammelt Warth weiter schöne Erinnerungen: Seit ihrem 100. Geburtstag fahren sie zu ihrem Ehrentag Gondel im Schlosspark Nymphenburg. Es schaukelt schön auf dem Wasser – Warths Element. „Man muss nicht immer den höchsten Zielen hinterherjagen“, sagt sie und freut sich auf die nächste Gondelfahrt und ihren 103. Geburtstag im Sommer. „Man muss lernen, die kleinen Dinge im Leben zu schätzen. Dann ist man zufrieden – und das ist neben der Familie das Wichtigste.“