Baierbrunn – Manchmal, wenn Maria Rost spricht, unterbricht sie unvermittelt ihren Satz. Ihre ruhigen blauen Augen werden dann starr. Sie beobachtet ein buntes Blatt, das vom Amberbaum vor ihrem Wohnzimmerfenster in Richtung Boden flattert. „Mir ist früher nie aufgefallen, wie die Blätter tanzen, wenn der Wind leicht geht.“ Die 100-Jährige hat im hohen Alter Dinge entdeckt, für die sie erst jetzt Augen hat.
Früher, da ging das noch nicht, sagt sie. „Ich habe keine Zeit für so etwas gehabt.“ Und damit meint sie Eichhörnchen im Garten, die Vögel, die sie füttert, oder eben tänzelnde Blätter im Wind. Früher, da habe sie gearbeitet, ständig. „Ich habe mich nie geschont“, sagt sie. Wollte sie auch nicht. Maria Rost mochte es am liebsten, wenn sich etwas rührte. „Ich habe immer Freude daran gehabt, etwas zustande zu bringen.“ Nicht aus Karrieredenken, „so wie die jungen Leute heute“, sondern, weil es ihr Spaß gemacht hat anzupacken.
Vier Kinder zog die gebürtige Augsburgerin groß – und heute noch dreht sich vieles in ihrem Alltag um die vier. Wenn auch in einer ganz anderen Form als noch vor Jahrzehnten. Am wohlsten fühlt sich Maria Rost, wenn sie Besuch hat. Vor allem ihre beiden Töchter würden sie häufig besuchen, sie bekochen und von ihrem Alltag berichten. „Und meine Nachbarn kommen öfter vorbei.“
Dann sitzt man im Wohnzimmer und plaudert. Und dann erzählt Maria Rost vielleicht, dass sie gar nicht vorhatte, 100 Jahre alt zu werden. Oder sie erinnert sich an ihre Kindheit. „Ich habe gemerkt, dass da viele Grundsätze gelegt worden sind, die mich mein ganzes Leben lang begleitet haben“, sagt sie. Zum Beispiel ihre Liebe zur Musik, die ihr Vater an sie weitergab, ein Gesangslehrer in Augsburg. „Ich bin in Musik gebadet worden“, nennt sie das. Noch heute steht in ihrem Wohnzimmer ein Klavier, die 100-Jährige saß aber schon lange nicht mehr auf dem kleinen Hocker davor.
Es gibt viele Dinge, die sie gerne öfter tun würde. Lesen zum Beispiel. Oft fehle ihr dafür die Zeit, an anderen Tagen ist sie dafür zu müde. Dann verschwimmen die Zeilen, dann sieht sie manche Buchstaben doppelt, „dann macht es keinen Spaß mehr“. Die Zeitung liest sie trotzdem täglich, mit Brille auf der Nase und einer Lupe über dem Papier. „Das ist mein Tor in die Welt so wie die Nachrichten im Fernsehen.“ Maria Rost kann nicht mehr wie früher überall dabei sein, aber sie möchte zumindest davon wissen. „Sonst wird man zu schnell abgehängt.“
Dass manche ihrer Hobbys nicht mehr funktionieren, dass sie manches auch gar nicht mehr kann, das gehöre halt zum Altwerden dazu. Dafür hat Rost neue Routinen dazugewonnen. Jeden Morgen, bevor der Pflegedienst sie besucht, macht sie Gymnastikübungen. Zehen strecken, aus der Hüfte stemmen, sich strecken, es ist immer dasselbe Programm. Rost mag es nicht, wenn es jemand durcheinanderbringt. Nötig ist die Gymnastik, damit Rost trotz ihrer 100 Jahre agil bleibt. Geistig ist sie es sowieso, auch wenn sie manchmal etwas vergisst. „Ich bin eben alt. Und alt sein hört nicht auf“, sagt sie.
Aber sie hat schöne Seiten daran entdeckt. Den Blick für vermeintliche Kleinigkeiten zum Beispiel, wenn der Amberbaum ein Blatt verliert. „Ich habe gelernt, dass man zufrieden sein kann mit ganz kleinen Dingen, und wie wohltuend das ist.“ Jede Jahreszeit hat sie schon 100-mal erlebt – aber vielleicht noch nie so genossen wie heute. DOMINIK STALLEIN.