Bayerns tausende kleine Barrieren

von Redaktion

VON KATRIN WOITSCH

München – Erst neulich hat sich Ralph Seifert wieder aus tiefstem Herzen geärgert. Grund dafür war die E-Tankstelle vor dem Landratsamt in Bad Tölz. Der 53-Jährige sitzt im Rollstuhl, für ihn ist es unmöglich, an die Ladesäule zu kommen – denn dafür müsste er zwei Schwellen überwinden. Es wäre so einfach gewesen, auf die beiden Erhöhungen zu verzichten und die Tankstelle für alle Menschen erreichbar zu machen. Doch als sie aufgestellt wurde, hat niemand an Menschen mit Gehbehinderung gedacht. Und das, sagt Seifert, passiert leider in Bayern sehr häufig.

Er ist nicht nur selbst betroffen, sondern auch Behindertenbeauftragter im Landkreis und Mitglied in der Vereinigung Kommunaler Interessenvertreter von Menschen mit Behinderung in Bayern. „Wir sind weit entfernt von der Barrierefreiheit, die Horst Seehofer uns versprochen hatte“, sagt er. Der frühere bayerische Ministerpräsident hatte vor gut zehn Jahren versprochen, dass es Schwellen wie die vor der E-Tankstelle bis 2023 in Bayern nicht mehr geben wird – und auch keine Barrieren in Arztpraxen, Krankenhäusern, an Bahnhöfen oder im Internet.

„In Bayern geht wenig bis gar nichts voran“, kritisiert Ruth Waldmann, die gesundheitspolitische Sprecherin der Landtags-SPD. Sie fand es damals gut, dass sich Seehofer traute, ein Versprechen mit Jahreszahl zu geben. „Das Thema Barrierefreiheit betrifft so viele Menschen in Bayern. Auch pflegende Angehörige, Senioren oder Eltern mit Kinderwagen“, sagt sie. Umso mehr ärgert sie sich, dass von dem ehrgeizigen Ziel nichts übrig geblieben ist. „Für alle, die es betrifft, ist dieses Thema essenziell, um teilhaben zu können. Und für alle Menschen ist es angenehm, wenn unser Leben barrierefrei ist.“ Schon vor einigen Jahren hatte die Landtags-SPD gefordert, einen Kriterienkatalog für alle Arztpraxen und Krankenhäuser auflegen zu lassen sowie ein Gütesiegel für Barrierefreiheit einzuführen. Es gibt zwar ein Signet „Bayern barrierefrei“. Aus Waldmanns Sicht ist das aber „nur ein schickes Etikett ohne praktischen Wert“. Es sei für Betroffene keine Garantie, dass die Barrierefreiheit wirklich gewährleistet ist, sagt die SPD-Politikerin. „Das Signet bekommt man bereits, wenn man die Absicht hat, etwas für die Barrierefreiheit zu tun, es ist kein Zertifikat.“

Zahlen zur Barrierefreiheit gibt es nur teilweise. Nur 2194 der 11 000 bayerischen Arztpraxen waren nach einer Selbstauskunft im Sommer 2020 rollstuhlgerecht ausgestattet. Auch bei den Krankenhäusern gibt es noch Verbesserungspotenzial. 54 von 88 befragten Krankenhäusern gaben 2022 an, dass beispielsweise der Weg vom Parkplatz zum Infoschalter für Menschen mit Seheinschränkungen nicht barrierefrei ist. Auch beim Internetauftritt gibt es für viele Patienten Hürden: Die Vorlesefunktion der Webseite nutzen nur 4,4 Prozent der Krankenhäuser. Die Einstellung der Schriftgröße nach Bedarf ermöglichen 40,7 Prozent. Nur neun Prozent der bayerischen Wohnungen haben einen komplett barrierefreien Zugang, komplett barrierefrei ausgestattet sind 2,4 Prozent. Von den 2839 öffentlich zugänglichen staatlichen Gebäuden besitzen 1399, also nur knapp die Hälfte, barrierefreie Parkplätze und Sanitärräume. Von den 1066 bayerischen Bahnhöfen und Haltestellen sind 506 komplett barrierefrei.

„Barrierefreiheit ist und bleibt eine Daueraufgabe“, betont Sozialministerin Ulrike Scharf (CSU). Teilhabe und das Miteinander im Alltag müssten selbstverständlich sein. Auch Holger Kiesel, der Behindertenbeauftragte der Staatsregierung, spricht von einer Daueraufgabe. „Wir werden die komplette Barrierefreiheit auch in zehn Jahren noch nicht erreicht haben.“ Die Digitalisierung sei dabei zwar eine große Chance – umso wichtiger werde es aber, auch die digitale Welt barrierefrei zu gestalten. Das sei nicht nur eine Aufgabe des Staates, sondern auch der Wirtschaft, der Institutionen und Verbände, betont Kiesel. „Und ganz ohne Druck wird es nicht funktionieren.“

Auch deshalb, weil das Thema noch nicht präsent genug ist, glaubt Rollstuhlfahrer Ralph Seifert. Er hat sein Landratsamt darauf hingewiesen, dass die E-Tankstelle nicht barrierefrei ist. Die zweite Ladesäule wird nun ohne Stufe und Podest gebaut. Das freut den 53-Jährigen. Noch mehr hätte er sich aber gefreut, wenn die Behörde von selbst daran gedacht hätte.

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