NATALIAS NEUANFANG

Meine verlorene Identität

von Redaktion

Der russisch-ukrainische Krieg dauert elf Monate. Mein Gefühl des Mitleids gegenüber den russischen Soldaten ist längst einem Gefühl von Hass und Ekel gewichen. Anfangs habe ich alle Nachrichten aus der Ukraine verfolgt, inzwischen vermeide ich es, Nachrichten über den Krieg zu erfahren. Der Unterschied zwischen meinen beiden Welten – der ukrainischen und der bayerischen – ist noch greifbarer geworden. Während hier die Weihnachtsferien voller Freude und Geschenke für mich waren, bedeuten die Feiertage in der Ukraine verstärkten Beschuss und mehr Angriffe. Zu Beginn des neuen Jahres griffen russische Soldaten die Ukraine mit iranischen Drohnen an. Wegen der Ausgangssperre und der Anschläge feierten meine Eltern Silvester allein zu Hause. Besonders schrecklich ist die Tragödie in der Stadt Dnipro, wo ein Wohnhaus von einer russischen Rakete getroffen wurde. Es war das Nachbarhaus meiner Freundin Alena, die schon lange in München lebt. In der Anfangszeit des Krieges widmete sie ihre ganze Freizeit der Wohnungssuche für Flüchtlinge. Nun hilft sie den Überlebenden in Dnipro, eine vorübergehende Unterkunft zu finden. Mehrere ihrer Freunde starben, andere landeten mit schweren Verletzungen im Krankenhaus.

In letzter Zeit denke ich mehr und mehr über meine Identität nach. Ich bin eine russischsprachige Ukrainerin. Meine Großmutter wurde in Russland geboren. Ich habe Russland immer geliebt und mich als Teil der russischen Welt betrachtet. Doch nun merke ich, dass das, woran ich glaubte, was ich liebte und wovon ich mich selbst als Teil betrachtete, nicht existiert. Wer bin ich? Bisher habe ich keine Antwort auf diese Frage. Ich hoffe wirklich auf ein baldiges Ende des Krieges und die Befreiung aller ukrainischen Gebiete. Aber gleichzeitig fühle ich mich nicht wirklich als Teil der ukrainischen Kultur, weil ich mit russischen Traditionen aufgewachsen bin. Es gibt viele Leute wie mich. Sie sind über die ganze Welt verstreut. Sie lebten in der Ukraine, waren aber nie Teil dieser Kultur. Jetzt wollen sie nicht mehr Teil der russischen Welt sein. Sie gehören auch nicht zur Kultur des Landes, in dem sie zufällig als Flüchtlinge gelandet sind. Das ist die Tragödie einer ganzen Generation.

Ich weiß, dass ich in München bleiben möchte, um hier zu arbeiten und meinen Eltern von hier aus zu helfen. Seit elf Monaten ist diese Stadt eine Erlösung für mich. Ich bin allen Münchnern so dankbar. Und ich weiß auch, dass das Gute immer gewinnen wird.

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