München – Das Spitzengespräch zwischen Ministerpräsident Markus Söder, Bayerns Verkehrsminister Christian Bernreiter (beide CSU) und Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) war minutiös geplant. Ab 11.30 Uhr war zunächst ein „Kennenlernen und weitere Themen“ festgelegt – 45 Minuten lang. Danach stand das Thema zweite Stammstrecke auf dem Programm – circa 30 Minuten. Der Leiter des Referats A I 3 hatte an alles gedacht – sogar an die Festlegung einer „Sprachregelung“, die ein „gemeinsames Bekenntnis zum Projekt“ beinhalten sollte. So steht es in dem Dossier aus der Staatskanzlei, das am 27. Juni 2022 angefertigt wurde – drei Tage vor dem geplanten Treffen. Es liegt unserer Zeitung vor.
Aus dem Papier geht deutlich hervor, auf welch wackligem Fundament die zweite Stammstrecke damals stand. Mitte 2022 war intern – öffentlich allerdings noch nicht – schon längst bekannt, dass die Kosten und der Zeitplan aus dem Ruder gelaufen waren. Über sieben Milliarden Euro standen jetzt im Raum. Der Referatsleiter warnte vor diesem Hintergrund: „Finanzierung der Mehrkosten bislang nicht geklärt“ – das „nicht“ hatte der Sachbearbeiter gefettet und unterstrichen. Sowohl Deutsche Bahn als auch Eisenbahnbundesamt hätten „die Abgabe einer Erklärung über die Sicherstellung der Gesamtfinanzierung (…) abgelehnt“. Selbst die Finanzierung der Baukosten für das Jahr 2022 sei „unklar“. Die Bahn musste die für 2022 veranschlagten Baukosten vorstrecken – immerhin 250 Millionen Euro. „Ohne Sicherstellung droht Baustopp im Herbst“, warnt der Beamte. Alarmierend war auch etwas anders: das sogenannte Nutzen-Kosten-Verhältnis (NKV) war, so „ein erstes vorläufiges internes Ergebnis“, unter die wichtige Grenze von 1,0 gefallen. Zur Erläuterung: Beim NKV wird der volkswirtschaftliche Nutzen mit den anfallenden Kosten verrechnet. Das NKV war bei der zweiten Röhre stets eine kritische Größe. Zeitweise behinderte der geplante U-Bahn-Bau nach Pasing ein NKV über 1,0, weil die U-Bahn Fahrgäste abgezogen hätte. Das ist Vergangenheit. Beim Spatenstich 2017 hatte die Stammstrecke ein NKV von 1,05 – nicht viel, aber ausreichend. Doch durch Umplanungen wie dem Einbau einer Rettungsröhre und eines sogenannten Vorhaltebauwerks für die geplante U9 explodierten die Kosten – und das NKV sank bedrohlich. Damit wäre das Projekt nicht mehr förderfähig gewesen, der Bund hätte sich aus der Finanzierung zurückziehen müssen. „Ein erstes vorläufiges internes Ergebnis der neuen Nutzen-Kosten-Untersuchung“ ergebe, so die Warnung, „ein Verhältnis von gut 0,9“. Doch könne noch „mindestens 1,0 erreicht werden, „da noch nicht alle Nutzenkomponenten mit eingerechnet werden konnten“. Näher erläutert wird das in dem Papier allerdings nicht.
All diese Themen sollten in dem mit Spannung erwarteten Spitzengespräch mit dem Bundesverkehrsminister besprochen werden. Es kam dann alles anders: Angeblich aus Termingründen ließ Wissing den Gesprächstermin platzen – worauf sein bayerischer Kollege Bernreiter im Alleingang die Kostenexplosion öffentlich machte
Erst am 29. September kam es dann zur ersehnten Zusammenkunft mit Wissing und zu einer Verabredung, das Projekt unbedingt weiter fortzuführen. Zwei Wochen vorher war auch das NKV neu berechnet worden: 1,06. Damit konnte das Projekt fortgeführt werden. Nur auf welchem Wege das NKV über 1,0 gehievt wurde, ist nicht öffentlich bekannt – und auch nicht, ob es dabei Rechentricks gab. Wahrscheinlich wird dies im Untersuchungsausschuss thematisiert, der bald mit der Arbeit beginnt.